Gerd Hilger: Der besondere Optiker aus Füssing
Bad Füssing, Lindenstraße. Es ist ruhig an diesem Nachmittag, ein paar Kurgäste gehen ihrer Wege, ein paar Einheimische ihren Erledigungen nach. Um die Ecke einer Bademodenboutique hat Gerd Hilger sein Geschäft: Optical Wellness. Im Schaufenster verraten wenige Brillen sein Metier, auch drinnen sind nur wenige Modelle ausgestellt – verglichen mit herkömmlichen Optikern. Herkömmlich ist hier nichts, das ist nicht nur an der Einrichtung auszumachen. Der großzügige, helle Raum bietet einladende Sitzgelegenheiten. Wer sich hier niedergelassen hat, blickt auf zunächst geheimnisvolle Gerätschaften. Hinter dem Empfangstresen steht schick und herzlich Optikermeisterin Tanja Voggenreiter, die schließlich an die Geräte bittet. Der Chef hält sich noch dezent in seinem Lieblingsraum, wie er später erzählen wird. Und nun beginnt sie, die außergewöhnliche Reise zum neuen Seherlebnis…
„Bei mir läuft das anders“
Ich lege mein Kinn auf die Vorrichtung, schaue ins erste Gerät, das Abbildungsfehler misst, das prüft, wie das Licht auf meine Netzhaut gelangt. Das zweite Gerät misst die Dicke der Hornhaut und den Augeninnendruck. Dazu pustet ein direkter Luftstrom auf’s Auge und ich zucke unwillkürlich. Nochmal. Nochmal. Und nochmal. Das dritte Gerät bildet den Aufbau der Netzhaut ab. Auf mehreren kleinen Fenster auf dem Bildschirm sieht Tanja die Ergebnisse, ein Bild zeigt das Auge mit einem feinen Netz aus Äderchen. Ich zwinkere. Die ersten Messungen sind geschafft, die Daten hat Gerd nun auf seinem Computer in seinem Raum, in dem er alles möglich machen kann, damit seine Kundschaft am Ende eine Brille auf der Nase sitzen hat, die wahrhaftig angenehmes Sehen ermöglicht.
Was nun meint Gerd damit? „Beim gewöhnlichen Optiker werden die Dioptrien gemessen und dann eine Brille angefertigt. Bei mir läuft das anders. Es hat immer mehrere Gründe, warum jemand schlecht sieht – oder ganz andere Probleme hat, deren Ursache mit den Augen zusammenhängt.“ Darum geht Gerd viele Schritte tiefer. Während er mich an ein weiteres Gerät setzt, bringt er seine Philosophie folgendermaßen auf den Punkt: „Mein Alleinstellungsmerkmal ist neben dem Finden der richtigen Brille die Gesundheitsvorsorge. Es ist wichtig, sich viel Zeit für die Beratung zu nehmen, damit die Leute wissen, was sie selbst für ihre Augengesundheit tun können.“
Gerd fragt, ob ich genügend Wasser trinke oder rauche, was ich beides verneine. Auf dem Bildschirm erscheint mein Auge, dicht umspannt von Venen und Arterien, die soweit ganz gut aussehen, wie Gerd bemerkt. Dennoch gibt er den Rat mit, auf genügend Omega-3-Fettsäuren im Essen zu achten. Lein- und Hanföl sind eine gute Wahl, Nüsse auch. Und fetter Fisch wie Lachs eigentlich auch, wenn da nicht die Problematiken von Massen-Fischhaltung und Wildfängen wären.
„Ich möchte Ursachenforschung betreiben“
Gerd fragt weiter. Ob ich Bücher lese? Ob mir schlecht als Beifahrer wird? Später gibt er mir einen Anamnesebogen mit, auf dem er ausführlichst abfragt, welche Gewohnheiten seine Kund:innen haben. Gerd bittet mich auf einen anderen Stuhl, an der Wand vor mir sehe ich jetzt die bekannten Zahlenreihen. Doch auch jetzt läuft es anders als beim gewöhnlichen Optiker. Auf die Nase setzt mir der 49-Jährige eine Messbrille, in die er Gläser schieben kann, die neben ihm in einem Kasten warten. Auf einem Bildschirm am langen Schreibtisch sehe ich mein Gesicht. Gerd filmt das Prozedere, um anschließend analysieren zu können, wie sich meine Kopfhaltung verändert, meine Mimik, was ich sage. Hier geht es ganz genau zu. Das ist Gerd.
„Mit meiner ersten Brille und der anstehenden Berufswahl habe ich mich entschieden, Optiker zu lernen. Da geht es sehr viel um Physik,“ erzählt er, als wir später auf der Couch bei einem Glas Wasser sitzen – denn viel trinken ist auch für die Augen wichtig, wie ich inzwischen weiß. Aufgewachsen ist Gerd in Simbach am Inn, gelernt hat er dort und in Pocking. Es folgten die Gesellenprüfung und zwei Jahre Berufspraktikum, bevor es ihn auf die Meisterschule nach München zog. Dort erkannte er, dass die Augenoptik mehr bietet als tatsächlich gemacht wird. An sich bemerkte er, dass ihm seine Brille nicht mehr passte. Ein Kollege machte ein erweitertes Messverfahren und am Ende hatte Gerd eine wirklich gute Brille. 1997 war er Optikermeister und noch lange nicht am Ende seines Könnens.
Weil Gerd es wirklich wissen will und sich nicht mit halben Sachen zufrieden gibt, machte er nach vielen Weiterbildungen seinen Heilpraktiker. „Technisch war ich absolut fit, aber mir fehlte noch die medizinische Komponente,“ sagt er. Als Heilpraktiker durfte er nun Diagnosen stellen und all das empfehlen, was die Augen gesund erhält. Außerdem durfte er nun Blut abnehmen, auch das analysieren, eben ganzheitlich beraten, was ein gewöhnlicher Optiker nicht kann. „Ich möchte nicht nur eine Brille verkaufen, sondern Ursachenforschung betreiben, um Krankheiten zu vermeiden,“ sagt Gerd.
Das ist Optical Wellness also!
Zurück in seinen Lieblingsraum, zurück zu mir und der Messbrille, die auf meiner Nase sitzt. Gerd schiebt ein Glas nach dem anderen in die Brille, während ich fast verzweifle. An der Wand vor mir sehe ich zwei Hälften eines Quadrats. Die Enden sollen auf gleicher Höhe sein. Mein Hirn weiß das, meine Augen sagen aber was ganz anderes. Die rechte Quadrathälfte ist definitiv niedriger als die linke. Der ganze Verstand, die aufsteigende Ungeduld und auch Augenrollen machen es nicht besser – erst die richtigen Gläser, die Gerd endlich findet. Als er die Gläser eins nach dem anderen wieder herauszieht und schließlich die letzten an der Reihe sind, ist mir, als ob meine Augen seitlich wegklappen würden. Der schöne Effekt ist weg, das Sehen plötzlich nicht mehr so einfach, so klar. Und das liegt nicht an meinen läppischen 0,25 Dioptrien, sondern daran, was mir Gerd nun erklärt.
Auf dem Video, das wir jetzt gemeinsam ansehen, zeigt mir der Heilpraktiker-Optiker, wie ich den Kopf leicht, aber deutlich erkennbar nach links drehe, wenn mein rechtes Auge verdeckt ist. „Du liest mit dem rechten Auge und darum machst Du diese Ausgleichsbewegung,“ erklärt er. In meinem Kopf rattert es, als mir Gerd auch schon die Antwort gibt: „Das kann Verspannungen und Kopfschmerzen verursachen, wenn Du viel liest oder am Laptop arbeitest.“ Das mache ich natürlich – und von Verspannungen und Kopfschmerzen kann ich ganze Liederbücher singen. Mir geht ein Licht auf. Das letzte, das tolle Glas, das war es, das diese Ungleichheit ausbügelt, das mein Sehen um so vieles einfacher macht. Das ist also das, was Gerd „Optical Wellness“ nennt. Das und dazu die Beratung, die Analyse, die gut drei Stunden dauert, anstatt die 20 Minuten vom Discounter-Optiker.
ADHS oder doch „nur“ ein Augenproblem?
„Ich habe einen hohen Qualitätsanspruch an das, was ich tue,“ sagt Gerd. „Sei es die Augenoptikerei, der Heilpraktiker oder Tomaten und Paprika züchten.“ Er lacht breit und trocken, verschränkt seine Arme um seinen Bauch, den er so erklärt: „Ich esse gerne gut.“ Dazu steht er und das kann er auch. Seinem Metier ist Gerd zunächst berufsbegleitend nachgegangen, bis er den Keller seines Füssinger Hauses ausgebaut hat und nebenher zum Freizeit-Optiker und -Heilpraktiker wurde.
Den Schritt in die Selbstständigkeit wagte er im April 2009, ein logischer Schritt, wie er selbst sagt: „Das war schon bei der Berufswahl mein Ziel, irgendwann mein eigenes Ding zu machen. Das einzig Blöde ist die Buchhaltung.“ Seinen Laden hatte er schon immer hier in der Lindenstraße. Füssing ist ein guter Ort für ihn, hier gibt es zur Genüge Übernachtungsmöglichkeiten für sein Klientel, das aus ganz Deutschland, Österreich und der Schweiz anreist. Ein Kunde kommt sogar regelmäßig aus Kanada angeflogen.
Nun will Gerd sich mein Auge noch genauer anschauen. Dazu fotografiert er es von außen, nimmt die ganze Iris unter die Lupe. Das Ergebnis allein schaut schon faszinierend aus, noch spannender wird es, als er beginnt, sämtliche Auffälligkeiten zu interpretieren: Da, am Augenwinkel wirft der Augapfel leichte Falten. Mehr trinken! Das zeigt auch der Tränenspiegel, der mein Auge nicht schön gleichmäßig ummantelt. Im Weiß meines Auges sind gelbliche Ungleichheiten erkennbar – Bindehautverklumpungen. Und in der Iris selbst sieht Gerd braune Flecken im Blau, die was mit den Nieren zu tun haben und damit auch auf einen Mangel an Flüssigkeit hindeuten könnten. Stressringe kann er bei mir nicht erkennen – diese umranden die Iris oft nach einschneidenden Lebenssituationen.
„Das Auge verändert sich im Lauf des Lebens, es passt sich Alltagssituationen an,“ sagt Gerd. „Gerade Kinder sind zunehmend kurzsichtig. Weil sie verstärkt Medien nutzen.“ Das wertet Gerd nicht als gut oder schlecht, er beobachtet es eben in seinem Berufsalltag. Oft kommen Eltern mit ihren Kindern erst dann zu ihm, wenn sie nicht mehr weiterwissen. Wenn die oft vorschnell getroffene Diagnose ADHS die Familien belastet. „Dabei sind die Kinder ganz normal. Sie tun sich schwer, aufmerksam zu bleiben, weil ihre Augen immer ausgleichen müssen. Das strengt an und darum können sie nicht stillsitzen,“ erklärt Gerd. Auch hier lohnt es sich, genauer hinzuschauen und nicht gleich mit dem Stempel zu kommen.
Deutschlandweit der einzige Optiker-Heilpraktiker
Das gilt auch für Erwachsene, siehe mich. Mir hat zwar niemand jemals ADHS diagnostiziert und ich bin auch fähig, lange Zeit am Stück zu lesen und am Bildschirm zu arbeiten, aber eben auf Kosten meiner Halswirbelsäule mit der Folge von regelmäßigen heftigen Kopfschmerzen. Ich bin gespannt, wie es weitergeht und fasziniert von Gerds Arbeitsweise. Der weist noch darauf hin, dass Augenerkrankungen in der Regel schmerzfrei ablaufen, Veränderungen aber bei regelmäßiger Kontrolle frühzeitig erkannt werden können.
Seinen Erfolg erklärt sich der Füssinger durch seine Einzigartigkeit und seine nachhaltige Behandlungsweise. Er kennt deutschlandweit sechs weitere Optiker, die auf seinem Niveau arbeiten, keiner aber ist außerdem noch Heilpraktiker. „Mein Kunde ist der, der mit seiner Brille nicht bequem sieht und der etwas für seine Augengesundheit tun will,“ sagt Gerd. Er fasst es nochmal zusammen: „Die Brillenglasstärke allein regelt es nicht – es geht um den Ausgleich an Kompensationshaltungen.“ Hätte ich es nicht eben selbst am eigenen Leib erlebt, ich könnte nicht so gut nachvollziehen, was er sagt. Und wie geht es jetzt weiter?
Vormittags Arbeit – nachmittags Tomaten züchten
Jetzt erst, nach über drei Stunden Beratung, Analyse und Gespräch ist es an der Zeit, das Brillengestell auszusuchen. Im Verkaufsraum steht ein futuristisch anmutendes Gerät, mit dem Gerd feststellen kann, ob die Brille auch gut sitzt. „Das Brillenglas soll optimal vor dem Auge platziert sein,“ sagt er. „Danach richtet sich die Fassungsauswahl.“ Aha, und ich dachte noch, hier entscheidet allein die Optik. Schon werde ich eines besseren belehrt. Mit dem Gerät lässt sich sogar ein Avatar erstellen. Die von Gerd und Tanja digitalisierten Brillenfassungen kann sich die Kundschaft auch von daheim bequem auf die Nase setzen. Gerade in Zeiten wie diesen eine feine Sache. Ich bevorzuge das Anprobieren vor Ort. Mit etwas Geduld finden wir eine Fassung, die ich wirklich mag. Jetzt heißt es noch fünf Tage warten, bis meine Brille da ist…
Noch einmal zurück auf’s Sofa. Gerd trinkt einen Schluck Wasser, gefiltert, aus der Glaskaraffe mit Zirbenholzkugel. Während wir sprechen, kommt Gerds Frau Irene herein, sagt Hallo. Auch sie arbeitet in der Optikerei, kümmert sich um die Patient:innen. Mit ihr und den zwei Kindern lebt Gerd im Kurort und laut dem Papa stehen die Chancen gar nicht mal so schlecht, dass die eine Tochter einmal sein Unternehmen fortführen wird. Er selbst möchte schon noch bis 65 arbeiten und es ist nicht ganz vorstellbar, dass er sich mal ganz zurückziehen können wird, so leidenschaftlich er seiner Berufung nachgeht und so analytisch, wie sein Herz klopft. „Mein Traum ist es, vormittags zu arbeiten und nachmittags Tomaten und Paprika zu züchten,“ schwärmt Gerd. Für heute ist Feierabend, damit sich Gerd wieder auf morgen und seinen liebsten Raum freuen kann.
Ich hoffe der Gerd verpasst meinen Eltern eine optimale Brille