Rainer Gratz alias Hochmeister Reinherr von Wehenoed: die vielen Gsichter eines Arnstorfers

Ein wenig könnte der Besucher meinen, hinter Mitterhausen ginge es nicht weiter. Ganz ruhig liegt das kleine Dörflein bei Arnstorf da. Und ebenso ruhig fügt sich auch das alte Pfarrhaus in den Ort. Heute wohnt da kein Pfarrer mehr drin, sondern die Familie Gratz: Rainer, Kathi und deren dreijährige Tochter Johanna. Rainer lebt nicht nur hier, hier befinden sich auch seine Arbeitsräume. Über eine eiserne Außentreppe und dann im Gebäude noch eine alte Holztreppe hinauf – da ist sein Tummelplatz. Rainer ist Grafikdesigner und „Auftragsmaler“, wie er sich selbst bescheiden bezeichnet.

An diesem himmelblauen Nachmittag im April sitzt er bei Kaffee und selbst gebackenen Keksen auf dem Sofa unter der Dachschräge, die ein beinahe lebensgroßes Gemälde eines Dinosaurierskeletts ziert. Ein einstiges Hochzeitsgeschenk an Freunde, das schließlich seinen Weg wieder zurück zum Künstler gefunden hat, wie er später erzählt. Rainer strahlt eine enorme Ruhe aus und als ich ihn darauf anspreche, nickt er wissend: Ja, das höre er öfter. Und es sei wirklich so. So schnell bringe ihn nichts aus dem Konzept.

Die erste „normale“ Hose seit Wochen

Auch ein gewisser Virus nicht. „Die großen Aufträge sind nach wie vor da. Größere Unternehmen haben jetzt Zeit, sich mal um ihre Homepage zu kümmern,“ sagt der 48-Jährige mit einem trockenen Lächeln. „Freilich, die Veranstaltungen gehen ab.“ Flyer, Plakate, dies und jenes – „Kleinvieh hat auch Mist gemacht. Das merke ich jetzt.“ Im Februar, als die Kommunalwahlen anstanden, hat Rainer noch ordentlich Stress gehabt. Drucksachen in sämtlichen Variationen waren gefragt. Und Rainer selbst ließ sich auch noch aufstellen.

Und dann war plötzlich Ruhe, kaum waren die Wahlzettel in den Urnen gelandet. Einen Platz im Rathaus hat Rainer nicht bekommen. Dafür mit dem Lockdown eine alltägliche Gemütlichkeit, deren Vorteile er schnell erkannte und genießen konnte. Vormittags genießt er die Zeit mit Johanna, mittags gibt’s einen fliegenden Wechsel mit Kathi, dann hat Rainer Zeit für seine Arbeit. Und Zeit für seinen Rittersaal, der sich gleich neben dem Büroraum erstreckt. In mühe- und liebevoller Detailarbeit bemalt Rainer die Decken und Wände des langen Zimmer mit Ornamenten, Wappen, Wandbildern, die Geschichten von damals erzählen. Was es mit Rainers Leidenschaft für Ritter auf sich hat, ja, dazu kommen wir später ausführlicher…

Erst macht Rainer noch auf seine Hose aufmerksam, die erste „normale“ Hose, die er seit Wochen anhat, weil das schließlich der erste offizielle Termin seit Wochen ist. Ja, Corona macht den Alltag auch gemütlicher. Der Antrag auf Soforthilfe wurde bewilligt, was die finanzielle Lage gut entspannt. Und das Landleben, das erleichtert sowieso alles. Ja, auch die Erstreaktion mit der Ausgangssperre der Regierung schätzt Rainer richtig ein, auch wenn er sich ansonsten nicht mit der CSU verbunden fühlt. Schön findet Rainer auch, dass die Natur mal Pause hat, dass keine Kondensstreifen am Himmel zu sehen sind, dass er das Privileg hat, als Selbstständiger absolut flexibel zu sein. Nur eins wurmt ihn ein wenig: Volksfeste wird es in diesem Jahr keine geben. Dabei mag er die doch so.

„Ich könnte heute noch eine Brücke sprengen“

Rainer zuckt mit den Schultern und trinkt einen Schluck Kaffee, bevor er beginnt, aus seinem Leben zu erzählen. Aufgewachsen ist er in Wehenöd auf einem kleinen Bauernhof. Nach der Schule lernte er bei Knürr in Arnstorf den Beruf des Konstruktionsmechanikers, bevor er zum Bund musste. Erst war das ein Müssen, – damals gab es die Wehrpflicht ja noch – dann ein Wollen, ganze zwölf Jahre lang. Rainer erinnert sich an die Zeit in der Fürst-Wrede-Kaserne in der Ingolstädter Straße in München. Erst war er wehrpflichtig, dann schlug er eine Unteroffiziers-Laufbahn ein, wurde Ausbilder, Pionierfeldwebel, machte den Sprengberechtigungsschein – „Ich könnte heute noch eine Brücke sprengen“ – und verbrachte die letzte Zeit als Rechnungsführer. „Das ist nichts anderes als ein Lohnbuchhalter. Die Bundeswehr hat sich von 500.000 auf 150.000 Leute verkleinert, da gab es nicht mehr viele spannende Stellen.“

Ja, im Auslandseinsatz war Rainer auch einmal, in Albanien, 1996, aber nur zur Übung und konfliktträchtig wurde es auch erst dann, als er längst wieder im friedlichen Rottal war. Nein, ein Militärfanatiker ist Rainer nicht. Der Bund hat ihn gereizt, weil er damals in seiner Jugend schon so ein „Wildnis-Typ“ war, wie er sagt. Gemeinsam mit zwei Spezl bürgerte sich die kurze Tradition ein, sich nach Weihnachten irgendwo im Nirgendwo aussetzen zu lassen. Zu Fuß sind sie dann heimgegangen, haben im Wald geschlafen, Feuer gemacht – und waren pünktlich zur Silvesterfeier wieder daheim. Das Draußensein hat er beim Bund genossen, dazu die Kameradschaft, was zwar klischeehaft klingt und ein wenig nach Bier, Zigaretten und Kartenspielen. Aber doch, echt wahr, Rainer freut sich noch heute über Freundschaften, die in der Bundeswehrzeit ihren Anfang nahmen.

„Da bin ich auch mal grantig geworden“

Abgesehen davon verbrachte er jedes Wochenende daheim in Arnstorf, war fest integriert in die Marktgemeinschaft, war zwar unter der Woche weg, aber mit dem Herzen nie so richtig. Und nebenbei hat ihm die Zeit beim Bund das ermöglicht, was er sich sonst kaum leisten hätte können, für das er aber schon allerweil brannte: den Besuch der Kunstschule. Schon als Kind zeichnete und malte Rainer, was die Stifte hergaben. Das hat ihn nie losgelassen. Und auch wenn er mit 30 Jahren einer der ältesten Schüler der Schwanthaler Kunstschule war und hie und da für einen Dozenten gehalten wurde, erfüllte sich ein Traum, den er im Anschluss als Selbstständiger weiterleben konnte. Die Besoldung lief nach dem Ausscheiden noch weiter und so konnte er sich in Ruhe einen Kundenstamm aufbauen. Rainer macht eine Pause, trinkt den Kaffee aus, lächelt in sich ruhend. Heute erstellt Rainer Webseiten, zeichnet selbst Grafiken, wenn sich keine finden, gestaltet Drucksachen. Seine Kundschaft sind große Firmen, aber auch Start-Ups und viele Bands. „Darauf hab ich mich zufällig eingeschossen,“ sagt er.

Da sitzt er nun unter dem Dach des alten Pfarrhauses aus dem Jahr 1870. Zwei Jahre haben er und Kathi nach einem Zuhause gesucht und wie es oft hergeht „mit viel Glück“ in Mitterhausen dieses besondere Gebäude gefunden. „Wir haben’s angeschaut und uns gleich dafür entschieden – und den Zuschlag gekriegt,“ erzählt Rainer. Die Vorbesitzerin war Galeristin, „ein Zufall“. Jetzt sorgen ihre Bilder und Rainers Werke für einen abwechslungsreiche Wandschmuck. So glücklich das Finden des neuen Zuhauses war – das Renovieren hingegen, puh, das war nicht immer mit so viel Euphorie zu stemmen. „Da bin ich auch mal grantig geworden,“ sagt Rainer, was kaum vorstellbar ist. „Ein bissl Fluchen kann ich auch. Zefix! Und dann ist’s wieder gut.“ Nein, der Geist des alten Pfarrers hat das nicht gehört, dafür aber die Familie – Onkel, Schwager, Schwiegervater – alle eben, die geholfen haben und ohne die das gewiss nichts geworden wäre. Im Herbst 2018 sind die Gratzens eingezogen.

„Ich bin eher der Oldschool-Auftragsmaler“

Da kommen auch schon Kathi und Johanna die Treppe herauf und noch bevor Rainer seine Frauen – die „Chefinnen“ – sieht, beginnen seine Augen zu strahlen. Johanna schnappt sich einen Keks und erzählt dem Papa von der Schmetterlingsfamilie, die sie mit der Mama und Straßenmalkreide geschaffen hat und Kathi klinkt sich kurz und zurückhaltend ins Gespräch ein. Sie arbeitet bei Lindner in der Organisationsentwicklung, gerade in Teilzeit. Sie sei mehr der Sicherheitstyp, schätze eine Festanstellung und Rainer könne sich seinen Traum verwirklichen, sich aufs Künstlerische konzentrieren. Wobei – Rainer selbst mag sich nicht als Künstler sehen: „Ich muss mich nicht mit Kunst mitteilen. Das kommt vielleicht noch. Ich bin eher der Oldschool-Auftragsmaler.“ Kathi und Johanna verabschieden sich wieder nach draußen, noch ein Bussi für’s Töchterchen, weg sind sie.

Gerne entwirft und realisiert Rainer Layouts – so auch mit seiner Abschlussarbeit, einem Bildband namens „Sagenhaft“ mit Geschichten und Heimatsagen aus dem Simbach-, Kollbach- und Sulzbachtal. Ausdrucksstarke Aquarelle, detailgenaue Bleistiftzeichnungen, alte Schriften – alles von Rainer erdacht und umgesetzt. Auch das Interesse für alte Sagen geht bis in Rainers Kindheit zurück. Ritterliche Heldengeschichten, unheimliche Mittelalterstorys, dort Hufgetrappel, da tapfere Mannen, das fasziniert Rainer bis heute. Was heißt da fasziniert – Rainer lebt es.

Seit 1989 gibt es in Arnstorf alle vier Jahre das große Mittelalterfest, „seitdem bin ich in der Szene.“ 2015 war er gemeinsam mit einer anderen Firma für die Werbung zuständig, 2019 stieg er zum Organisator auf. Auf einer Staffelei steht eine Bleistiftzeichnung, plastisch wölben sich die Stofffalten, in festem Stand steht er da, der Kreuzritter. „Da wurde ich 2011 angefragt, Gewandungsentwürfe zu machen. Meine Mutter hat einiges nachgeschneidert.“ Dazu baute die neue Ritter-Sparte des Arnstorfer Faschingsvereins Schilder und all das Drum und Dran, das man eben für ein richtiges Lager braucht. Nicht nur für das ortseigene Mittelalterfest, sondern für sämtliche Veranstaltungen dieser Art im Umkreis von bis zu hundert Kilometern. Rainer war also durchaus schon erprobt, als ihn der Bürgermeister fragte, ob er nicht die Organisation für das Fest 2019 übernehmen wolle. Rainer erbat sich eine Bedenkzeit, begann aber bereits im Kopf zu planen. Und freilich sagte er zu. Auch auf das Drängen von Kathi, die meinte: „Wer sollte es sonst machen, außer dir?“

Bunt, laut, trubelig, wild und fremd

„Im letzten halben Jahr vor dem Fest war das ein Vollzeitjob,“ erzählt er. Weit über 1.000 Stunden Arbeit hat er investiert für ein Fest auf über 200.000 Quadratmetern mit über 25.000 Besuchern. „Das hat meine Liebe zum Mittelalterfest nochmal richtig gefestigt,“ sagt Rainer. Klarer Fall, dass er sich für die Organisation der nächsten Ausgabe nochmal bewerben will. Ja, es ist ein Eintauchen in eine andere Welt, in eine andere Zeit, wenn sich Arnstorf ein paar hundert Jahre zurückverwandelt. Wenn es überall rauchig duftet, die Leute in langen Leinengewändern herumgehen, auf der großen Wiese Turniere ausgetragen werden, Lauten- und Dudelsackklänge ertönen, ein Narr seine Späße treibt, ein Falkner seine edlen Tiere zeigt… Und dann der große Umzug mit den vielen Teilnehmern von außerhalb. Bunt, laut, trubelig. Auf der Bühne spielen Mittelalterbands, wild und fremd, da wandelt eine Frau mit einer Schlange herum, dort dreht sich eine Sau am Spieß. Und in den Lagern fläzen Leute auf Fellen, baden Kinder in Zubern, köcheln Eintöpfe in Kesseln über dem Feuer, trinken bärtige Männer Bier und Met. Da hallen die Rufe noch tagelang im Ohr: „Jubeeel!“ Und „Handgeklapper!“

Die Ritter – das waren ja Christen? Wie hält Rainer es denn mit der Religion? „Nicht mehr als jeder andere. Wir haben zwar eine Hauskapelle, aber ich geh meistens nur bei großen Festen in die Kirche. Mama zuliebe, sie ist Mesmerin. Ich hab da noch meinen Stammplatz in der Kirche. Da sitz ich dann schon gern. Ich denke dann an nichts und komme runter. Ich mag das gemeinschaftliche Sitzen. Es gibt Tage, an denen bin ich mir sicher, dass es Gott gibt. Und dann gibt es Tage, da weiß ich: Gott gibt’s auf keinen Fall.“ Wie die Kreuzritter so darüber dachten, darüber lässt sich nur spekulieren. Dass sie im Namen des Herrn so manche Schandtat begingen, ist Rainer klar: „Der Deutsche Orden hat auch die Pilgerwege geschützt. So reden wir uns das schön.“

„Das ist kein Spiel, man lebt das“

Als ich Rainer frage, was er an diesem Ritter-Rollenspiel so mag, schaut er mich kritisch von der Seite an: „Das ist kein Spiel, man lebt das.“ Klare Worte aus dem Mund von Hochmeister Reinherr von Wehenoed, Mitglied des Deutschen Ordens aus dem 13. Jahrhundert. Gleich darauf grinst er ein wenig: „Wir sind nicht so extrem, aber es gibt auch eine Hardcore-Szene, die an jedem Wochenende unterwegs ist. Dazu habe ich keine Zeit. Es gibt ja auch noch Vereinstätigkeiten, Arbeiten am Haus und andere Geschichten.“ Und was er so mag, ist der Spaß an der Sache, am Lagerfeuer zu sitzen mit den Freunden, den Urlaub vom Alltag, wie er sagt. Früher hatte er das auch schon, als er noch mit dem Motorrad unterwegs war. „Bikertreffen haben denselben Zweck,“ sagt Rainer. Da hatte er halt Holzfällerhemden, zerrissene Jeans und schwere Boots an anstatt ein Kettenhemd.

Lächelnd erinnert er sich an die Zeit als Rocker, die sich streng von den „Technojüngern“ abgrenzten. „Die 90er waren schon ein seltsames Jahrzehnt,“ sinniert Rainer. ACDC, Led Zeppelin, Queen, U2, die machten seine Musik. „Mittlerweile bin ich offener. Am liebsten höre ich bei stressiger Arbeit U1 Tirol, ein Schlagersender.“ Er lacht. Früher, da war er auch als DJ unterwegs, hat auf sämtlichen privaten und Vereinsveranstaltungen aufgelegt. „Das hat sich aufgehört,“ sagt er. Alles zu seiner Zeit. Jetzt ist er Papa, Ehemann, Hausbesitzer. Und manchmal eben Ritter.


Eine kleine Auswahl aus Rainers Werken:

Das Rotter Gsichter Magazin
Das Rottaler Gsichter Magazin

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Hier gibt’s weitere Infos…

Gratz Design

Rainer Gratz

Telefon: 08723-978302
Anschrift: Mitterhausen 4
94424 Arnstorf

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