Merlin Löwecke: „Das Leben besteht aus Zwischenstopps“
Die Sonntage beginnen bei Merlin Löwecke und Ulli Baumgartner spät. Merlin macht die Kaffeemaschine an, Ulli rührt Waffelteig, während die Sonne die helle Wohnung erleuchtet und Katze Akhona ihre Futterschüssel ausschleckt. Aus dem Samstagabend wurde der Sonntagmorgen – so gehört sich das für eine Pfarrkirchner Cocktailbar namens Cookies, die sich wacker den stetig wandelnden Bestimmungen der Pandemie anpasst. Der 31-Jährige verteilt Teller und Besteck auf dem großen Esstisch und beginnt, seine Geschichte zu erzählen. Doch Moment! Merlin kommt Dir bekannt vor? Genau, Du kennst ihn aus der Ausgabe Nummer 3 des ROTTALER GSICHTER MAGAZINs, als er mit seinem Spezl Ram groß aufkochte. Doch bleiben wir zunächst in der Gegenwart…
Jetzt befinden wir uns also in Merlin und Ullis Wohnung in Gehring bei Pfarrkirchen. Ulli schöpft Teig ins Waffeleisen, klappt es zu und es beginnt fast augenblickblich zu duften. Ja doch, natürlich, Essen und Genießen steht ganz oben auf der Wichtigkeit im Leben der beiden, so viel steht fest. Und darum ist das Waffeleisen auch kein Gegenstand, der in anderen Haushalten sein müdes Dasein in einem Küchenschrankwinkel fristet. Goldbraun landet die erste Waffel auf dem Teller, weiter geht’s.
„Das Cookies passt perfekt zu mir“
„Im ersten Lockdown habe ich Güner im Lazy Cat Café besucht. Ihm hat das Cookies gehört und weil ich Lust hatte mal wieder in eine Bar zu gehen, fragte ich ihn, wann er denn wieder öffnen würde. Kurzerhand hat er es mir ganz spontan zum Kauf angeboten. Ich habe kurz überlegt, es hat sich aber gleich stimmig angefühlt. Ich war ja oft zu Gast und das Logo mit dem Hut und der Brille sowie das Motto „When Love meets Magic“ passen einfach perfekt zu mir. Also hab ich ja gesagt. Der Plan war, im November 2020 zu starten. In der Zeit zwischen den beiden Lockdowns ist viel passiert. Mit Güner habe ich viel Zeit verbracht und eine Menge von ihm gelernt. Nicht nur Cocktails mixen, sondern auch den Umgang mit Social Media und Buchhaltung. Außerdem hab ich begonnen, ein wenig zu renovieren.
Ich hatte nichts zu verlieren und mir die Sache finanziell so eingerichtet, dass ich auch einen zweiten Lockdown überstehen würde. Dass der so lange dauern würde – ein halbes Jahr lang – damit hatte ich allerdings nicht gerechnet. Im Oktober habe ich bei Güner probegearbeitet und den Laden schon mit allem Drumherum geschmissen, um dann starten zu können. Ich war gut vorbereitet. Ja, und dann musste ich zusperren. Das war absolut schade, weil ich so Lust hatte und startklar war. Weil ich die Dinge aber grundsätzlich so nehmen kann, wie sie sind, hab ich das Beste draus gemacht und allein mit Güner und Ulli Zeit im Cookies verbracht. Ich hab neue Cocktails ausprobiert, mich mit den vielen Rezepten vertraut gemacht, Billard gespielt…
„Schön, dass es so gut läuft“
Und gegen Ende des Lockdowns hab ich das Fenster zur Straße geöffnet und Crêpes verkauft. Einfach, um zu zeigen, dass es das Cookies noch gibt. Seit der Eröffnung läuft es wirklich gut und ich habe eine große Freude, hinter dem Tresen zu stehen, Cocktails zu mixen, mich mit den Leuten zu unterhalten und zu sehen, wie sie das Miteinander und Feiern in meinem Laden genießen. Klar sind die wechselnden Bestimmungen anstrengend. Aber ich mache das Beste draus. So wie es kommt, kommt es. Natürlich haben mir damals viele Leute abgeraten, ausgerechnet zu Pandemiezeiten eine Cocktailbar zu kaufen. Umso mehr freut es mich, dass es jetzt so gut läuft.“
Ulli stellt den Teller mit einem Stapel fertiger Waffeln auf den Tisch. Merlin schnappt sich eine, verteilt darauf einen Löffel selbstgemachte Marmelade und trinkt einen Schluck Kaffee mit Hafermilch. Seit kurzem ist Ulli mit im Team. Die 46-jährige zweifache Mama und CAD-Konstrukteurin bei Lindner hat sich ein wenig außen vor gefühlt und freut sich, nun Teil des Teams zu sein und die Abende nicht nur als Gast zu erleben. Mit ihr arbeiten noch drei Barkeeper in der Bar.
Biertastings, Karaoke und Konzerte
„Von Anfang an wollte ich das Cookies nicht nur als Cocktailbar haben. Darum gibt es jetzt regelmäßig Konzerte, offene Jamsessions, Karaoke, philosophische Gesprächsrunden – und Tastings. Im zweiten Lockdown habe ich ein Online-Biertasting gemacht. Die Leute konnten sich vor Ort sechs verschiedene Biere abholen und über den Bildschirm haben wir sie gemeinsam verkostet. Als Gast war sogar eine Bier-Sommeliere dabei. Das hat echt Spaß gemacht und ich würde das gern auch nochmal in Präsenz wiederholen.
Seit das Cookies wieder geöffnet ist, kommen ganz unterschiedliche Leute rein. Klar, viele Studenten, aber auch Einheimische und ‚ältere‘ Leute ab 40. Ich hab aber auch schon gehört, dass sich viele nicht reintrauen, weil man nicht reinsieht. Dazu besteht natürlich überhaupt kein Grund. Vielleicht hängt das Image der Spielhölle noch nach, die mal hier war. Aber die Zeiten sind natürlich längst vorbei.
Aktuell ist das Cookies von Mittwoch bis Samstag geöffnet. Am Wochenende ist normaler Barbetrieb, unter der Woche meist die Veranstaltungen, die so vielseitig sind, wie ich selbst auch. In Pfarrkirchen gibt es nichts Vergleichbares. Dass ich mal eine eigene Cocktailbar haben würde, war nicht geplant. Aber irgendwie hat es sich schon im Lauf meines Lebens angebahnt.“
Merlins Lieblingscocktail: The Grapeist
Ulli sitzt am Tisch, rührt in ihrem Kaffee, lächelt Merlin an. Das Paar ist seit Anfang 2020 zusammen. „Am Valentinstag hatten wir unser erstes Date,“ erzählt Ulli. Die beiden wirken so harmonisch miteinander, dass es kein Wunder ist, dass sie schon wenige Monate später gemeinsam in ihre Wohnung zogen.
„Als ich noch in Afterhausen zwischen Pfarrkirchen und Postmünster gewohnt habe, hab ich schon öfter große Partys organisiert. Das hat großen Spaß gemacht und jede Party war einzigartig. Eigentlich hatte ich aber an ein Café gedacht, wenn ich mir vorgestellt habe, Wirt zu sein. Gäste zu bewirten ist für mich einfach was Schönes. Dass es eine Cocktailbar geworden ist, hat sich einfach ergeben. So ist das in meinem Leben: Die Dinge kommen auf mich zu, und ich feiere die Feste, wie sie fallen.
Früher war ich gar kein Cocktailtrinker, ich bin eher der Bier-Typ. Ich fand sie immer zu teuer. Heute weiß ich, dass das gerechtfertigt ist. Die verschiedenen hochwertigen Zutaten, die Zeit und das Wissen – all das ist seinen Preis wert. Einer meiner Lieblingscocktails ist beim Ausprobieren entstanden. Er heißt ‚The Grapeist‘ und ist mit Kokossirup und Grapefruitsaft. Güners Klassiker ‚Stephan the Fizz‘ mag ich auch total gern – mit Gin, Limettensaft, Himbeer- und Mandelsirup und Gingerbeer.
Gin ist auch eine Wissenschaft an sich. Güner hat sich schon stark in das Thema eingearbeitet. Seine Tradition führe ich weiter – im Cookies gibt es viele Sorten und dazu viele unterschiedliche Tonics. Es gibt so tolle Geschmäcker und es freut mich immer wieder, die unterschiedlichsten Möglichkeiten zu entdecken.“
Neun Geschwister und ein paar Umzüge
Auf dem langen Wandregal hinter dem Tisch stehen die Beweise, dass Merlin und Ulli auch daheim gern mal einen neuen Drink ausprobieren. Spirituosen und Sirups reihen sich aneinander. Darunter hängen Fotos, die von Merlins Reisen erzählen. An die Wand neben der Terrassen-Haustür sind gemeinsame Erinnerungen gepinnt. Merlin öffnet die Türen, lässt Sonne und frische Luft herein. Fast alle Seiten der Wohnung sind mit großen Terrassen gesegnet. Hier finden Gemüse und Kräuter in Töpfen ihren Platz. Merlin zupft eine Kapuzinerkresse-Blüte ab und steckt sie sich in den Mund. Damit dekoriert er gern die Cocktails, weil sich die Blüten so schön an den Glasrand einhängen lassen, wie er sagt.
„Das Cookies ist meine erste Erfahrung in Sachen Selbstständigkeit. Ich erzähl mal meinen Werdegang von vorn: Geboren bin ich in Moosburg. Meine Mama kommt aus München, mein Papa aus Berlin. Aufgewachsen bin ich dann in einer großen Patchworkfamilie in Pörndorf bei Landshut. Wir waren zehn Geschwister und Halbgeschwister. Ich habe also drei ältere Schwestern und drei ältere Brüder und dazu drei jüngere Schwestern. Gewohnt haben wir in einem Haus in einem kleinen Dorf. Meine Eltern haben sich getrennt, als ich etwa drei war. Mit zehn Jahren sind wir nach Unterzeitlarn, genau zwischen Pfarrkirchen und Arnstorf, gezogen. Erst bin ich aufs Gymnasium gegangen, dann aber auf die Realschule gewechselt. Dort hat’s mir besser getaugt und ich wurde Schülersprecher. Da begann die Zeit des Organisierens.
Von Afrika zurück ins Rottal
Nach dem Abschluss habe ich in München bei MAN eine duale Ausbildung zum Fertigungsmechaniker gemacht und so auch meine Abi nachgeholt. Unter der Woche war ich da bei meinem Vater, der in Freising gelebt hat. Die Lehrzeit hat mich geprägt und ich wusste: Fließbandarbeit ist nichts für mich. Und ich hab die Erfahrung gemacht, dass man auf dem Land doch sehr behütet lebt und in den Städten so viel Elend sichtbar ist. Das hat bei mir eine kleine Sinnkrise ausgelöst.
Mir war klar, dass ich was Sinnvolles machen wollte. Also bin ich für ein Jahr als Entwicklungshelfer nach Südafrika gegangen. Das war eine coole Erfahrung und ich hab dort nicht nur gut Englisch gelernt, sondern mit fünf anderen Freiwilligen das Land bereist, Briefe für Paten übersetzt, mit den Kindern und Jugendlichen eingekauft, ihnen beim Lesen und beim Umgang mit dem Computer geholfen – die Kinder von der Straße abgehalten. Die Organisation heißt Siyabonga Helping Hands.
Nach Afrika wusste ich, dass Arbeit für mich nur Mittel zum Zweck sein konnte. Ich nahm den erstbesten Job an, schlimm und schlecht bezahlt. Aber ich gebe nicht vorschnell auf und zählte stundenlang Kalender ab, bis ich alles in meinem Alltag zählte: Schritte, wie oft ich einen Bissen kaute… Schließlich wechselte ich zu einer Firma, die Trafos herstellt und dann zu Develey, wo ich bis heute als Kesselwart und Industrieschlosser arbeite. Dazu habe ich einen Nebenjob in einer Metzgerei und betreue auch dort einen Dampfkessel – und das, obwohl ich Vegetarier bin.
Mit Freunden fuhr ich früher öfter in ein altes Forsthaus in Tschechien, das wir herrichteten und im Austausch durften wir für die Zeit darin Urlaub machen. Das gemeinsame Schaffen und Erschaffen mit Freunden hat damals großen Spaß gemacht und so ist dann auch unser nächstes Projekt entstanden. In Afterhausen haben wir von Grund auf ein Haus saniert und eine schöne Zeit gehabt. Nach kurzer Zeit ist auch meine damalige Freundin mit eingezogen, die ich in Südafrika kennen gelernt habe, und wir haben diese berühmt-berüchtigten Partys geschmissen.
Nach der Zeit in Afterhausen bin ich mit meinem Spezl Ram in die Nähe von Nöham gezogen – auf einen großen, wunderschönen Hof mit guten Ideen, wie ein gemeinsames Leben mit verschiedenen Wohngemeinschaften, Landwirtschaft, Tieren und Menschen aussehen könnte. Leider hat die Umsetzung nicht geklappt wie gedacht und darum lebe ich heute mit Ulli hier.“
„Irgendwann: Leben im Tiny House“
Merlin nimmt Ulli in den Arm, beide freuen sich sichtlich über ihr gemeinsames Leben. Auch hier in Gehring hat es einen großen gemeinschaftlichen Charakter. In Merlins Hühnerstall leben 15 Hühner, um die sich abwechselnd drei Parteien kümmern. So hat jeder seine Freude an den Tieren und Eiern wie auch jeder seinen Wohnbereich hat. Und doch muss niemand allein sein – gern kommt man auf dem Hof zusammen, um über gleiche Interessen zu plaudern und um zu feiern. Nächstes Jahr sollen Hochbeete entstehen, um die man sich miteinander kümmern will.
„In den letzten Jahren habe ich wirklich viel gearbeitet und recht wenig geschlafen. Ich wünsche mir mehr Zeit für mich zum Durchatmen, Bücher lesen, Musik hören und selbst spielen, zum Sprachen lernen und Reisen. Ich möchte meinen Lebensstandard noch weiter senken, obwohl ich ohnehin mit wenig zufrieden bin. Aber es geht auch noch viel minimalistischer. Irgendwann will ich in einem Tiny House leben. Das Leben besteht aus Zwischenstopps. Es ist mir wichtig, mich immer weiterzuentwickeln. Darum ist es immer wieder an der Zeit, mich auf Neues einzulassen und zu lernen.
Doch jetzt ist erst mal das Cookies dran. Dort entspreche ich gewiss nicht dem Bild eines klassischen Chefs. Ich stehe mit meinen Leuten auf Augenhöhe, wir sind Freunde und vertrauen uns gegenseitig. Jeden Monat treffen wir uns und sprechen darüber, was gut und weniger gut gelaufen ist. Wir wertschätzen einander und sind ein echtes Team.
„Musik ist das Tor zur Seele“
Mit Ulli verbindet mich viel – ganz besonders die Musik. Musik machen und tanzen, das ist unsere Ding. Musik ist das Tor zur Seele. Ich habe erst recht spät angefangen selbst Musik zu machen. Mein Vater hat mir beigebracht Gitarre zu spielen als ich etwa 20 Jahre alt war. Später habe ich noch gelernt Ukulele zu spielen und habe mir die Grundlagen von Violine und Cajon angeeignet und ich singe auch sehr gerne.
Ach ja, und ich hab schon immer gern gesportelt. Klettern, Longboardfahren, Volley- und Basketball – das macht mir Freude. Und ganz besonders unser Ultimate Frisbee-Team, das wir in Pfarrkirchen gegründet haben. Aktuell überlegen wir, uns einem Verein anzuschließen. Frisbee ist ein so schöner Teamsport, bei dem es nicht großartig um Wettkampf geht, vielmehr um ein gutes Miteinander und ein faires Spiel.“
Jeden Sonntag trifft sich das Team zum Spielen. Noch hat Merlin ein Stünderl bis dahin, in dem er sich recht wahrscheinlich mit Ulli auf’s gemütliche Kanapee legen wird. Das Cookies öffnet am Mittwoch wieder seine Türen, bis dahin ist Merlin Kesselwart, Hühnerpapa, Freund und fröhlicher Mensch, ein lebendiger, neugieriger Zeitgenosse, der Fünf gerade sein lassen kann, die Dinge nimmt, wie sie sind und es versteht, das Leben zu genießen. Ein echter Lebenskünstler also…