Frieda Brummer: „Wenn es morgen vorbei ist, ist es gut“
Frieda Brummer sitzt in ihrem Sessel im Wohnzimmer. Es ist Sommer, es ist heiß und auch heute an diesem Morgen scheint die Sonne wieder zum Fenster herein. Auf Frieda Schoß liegt die aktuelle Ausgabe der Tageszeitung, auf dem Tischchen vor ihr steht ein großes gefülltes Glas bereit, das Telefon, Handcreme und ein dicker Schmöker liegen auch da. Neben ihrem Stuhl wartet der Rollator. Frieda schaut zufrieden in den Raum, zum Sofa, wo ihre Tochter Gerlinde sitzt. Mit Bedacht erzählt die betagte Frau von ihrem 89-jährigen Leben.
„Wir waren sieben Kinder, fünf Dirndl und zwei Buben. Ich bin als das fünfte Dirndl geboren worden. Als Baby hab ich Rachitis gehabt, ich kam so zur Welt, mit einem kleinen Lungenvolumen. Im Krankenhaus wurde ich bestrahlt. Von der Rachitis hatte ich auch eine starke Wirbelsäulenverkrümmung. Aufgewachsen bin ich bei Hebertsfelden. Wenn ich an meine Kindheit denke, erinnere ich mich an meinen Vater, der zu Lichtmess Geflügel am Viktualienmarkt verkauft hat. Und ich erinnere mich an seine Beerdigung, da war ich auch noch ein Kind und es gab als Leichensuppe einen Teller Lüngerl mit einem Semmelknödel. Das war das beste Essen.
Gelernt habe ich Damenschneiderin. Daheim musste ich nicht arbeiten, erst als ich selber schon Kinder hatte. Ich musste für alle Knechte und Mägde kochen, am Sonntag auch mal eine Gans oder Ente. Das Kochen hab ich mir von meiner Mutter abgeschaut.
Endlich hatten wir viel Platz
Meinen Mann Heini hab ich beim Tanzboden kennengelernt, beim Sandwirt in Rottenstuben. Ich hab einige Tanzfreunde gehabt, aber mit dem Heini hat es einfach gepasst. Mit ihm bin ich nach Pfarrkirchen gezogen. Da hat er ein Grundstück gekauft, auf dem sein Geschäft aufgebaut hat: eine Autoverwertung, einen Autofriedhof. Gleich daneben ist eine Siedlung entstanden und wir haben unser Haus gekauft. Das war wirklich wie ein Sechser im Lotto für uns. Endlich hatten wir viel Platz. Und wir haben einen Fernseher bekommen. Platz haben wir auch gebraucht – irgendwann waren wir zu neunt, wir haben sieben Kinder. Neben den Kindern habe ich meinem Mann im Geschäft geholfen, hab die Buchführung gemacht. Ich habe ein sehr gutes Zahlengedächtnis.
Mein Mann ist sehr früh gestorben, 1977 an Schilddrüsenkrebs. Sieben Wochen war er in München im Krankenhaus und als er heimkam, hat er mich angesehen und gebeten: „Gell, Du gibst mich nimmer weg?“ Nach seinem Tod war ich allein mit sieben Kindern und der Firma. Es war ja wichtig, dass das Geschäft weiterging. Mein ältester Bub, der Heini, hat übernommen. Da war er noch Student, er hat Fahrzeugbau studiert. Der Alfons war noch auf dem Gymnasium und hat nach der Schule auf dem Autofriedhof gearbeitet. Er hat immer geschaut, dass wir Geld haben.
Wir sind schon eine große Familie
Heute ist mein Rücken sehr schlecht, das kommt von der vielen schweren Arbeit und davon, dass ich jedes meiner Kinder herumgetragen habe. Ich habe 16 Enkel und 14 Urenkel. Wir sind schon eine große Familie. Für mich ist es schön, dass ich so viel Besuch habe und sich alle um mich kümmern. Die Gerlinde wohnt gleich neben mir, der Heini auch. Der Heini schaut immer, dass er die Familie zusammenhält. Er fragt immer: „Brauchst was?“ Das ist der Heini. Die Gerlinde badet mich und die Schwiegertochter kümmert sich auch viel. Alle Kinder kümmern sich um mich. Meine jüngste Tochter lebt in München und besucht mich auch regelmäßig. Dann bleibt sie das ganze Wochenende.
In der Früh steh ich auf, wasche mich und ziehe mich an. Das geht noch gut alleine. Frühstück macht mir eins der Kinder. Mit dem Rollator komme ich gut im Haus zurecht. Es ist ein praktisches Haus für alte Leute, alles ist auf einer Ebene. Und sollte mal was sein, habe ich seit meinem 85. Geburtstag einen Piepser vom Roten Kreuz am Arm. Untertags lese ich sehr viel. Lesen bildet. Darum bin ich gern mal allein.
Besonders gern lese ich Biografien. Ich hab auch das Buch von meinem Enkel Gerhard gelesen. Es ist seine Doktorarbeit. Ich glaube, ich bin die Einzige in der Familie, die sein Buch von vorn bis hinten gelesen hat. Außerdem lese ich jeden Tag Zeitung. Für mich ist es wichtig, Bescheid zu wissen, was um mich herum passiert. Ich kann mir noch alles sehr gut merken. Wichtig ist, dass man im Kopf gut beieinander ist. Ich glaube, es hält mich auch fit, dass mir viel erzählt wird. Ich bin nach wie vor an allem interessiert. Alle drei, vier Wochen gehe ich zum Friseur, das mag ich gern.
Es ist gut, nicht zu wissen, was kommt
Mittags bin ich auch gut versorgt, oft bringt mir die Schwiegertochter Essen. Auf die Nacht brauch ich nix. Bei Anlässen esse ich schon mal einen Kuchen. Und ich mag Karamalz am Nachmittag. Ein Flascherl trinke ich auf zwei Tage aus. Ich hab zwar einen Fernseher, schaue aber nicht viel. Nur jeden Sonntag den Morgengottesdienst, weil ich nicht mehr in die Kirche komme. Gern sitze ich auch draußen, wenn es nicht zu heiß ist. Um halb acht, acht gehe ich ins Bett. Ausziehen und auswaschen kann ich mich auch noch alleine.
Meine 16 Enkel haben alle Abitur und studieren, aber keiner macht was Praktisches. Trotzdem bin ich sehr zufrieden mit meinen Kindern und Enkeln. Ich habe die Nähe meiner Familie sehr genossen. Zusammenhalt, füreinander da sein, das macht eine Familie aus. Die Gerlinde sagt immer, dass sie ohne mich nicht hätte arbeiten können, weil ich für meine Enkerl da war.
Was ich vom Leben gelernt habe: Gesundheit kann man nicht kaufen. Drum schaut man sich besser drauf. Zu Corona hab ich auch meine Meinung. Impfen hab ich mich nicht lassen. Mit Zufriedenheit und einem guten Leben kann man was fürs Immunsystem tun. Bis zu meinem 85. Lebensjahr war ich in der Früh immer im Schwimmbad.
Es ist gut, nicht zu wissen, was kommt. Der Pfarrer war auch schon ein paar Mal da, zur Sicherheit. Der Doktor sieht mich einmal im Jahr zum Blutabnehmen, das reicht. An Ostern hat man bei mir Brustkrebs festgestellt. Ich nehme Tabletten, aber es ist in meinem Alter kein Problem mehr, dass der Krebs streuen könnte. Von irgendwas muss ich ja mal sterben. Ich hatte ein langes und erfülltes Leben. Wenn es morgen vorbei ist, ist es gut. Vorm Sterben hab ich überhaupt keine Angst. Die zehn Minuten, die man beim Sterben aushalten muss… Nach dem Tod brauchen wir nichts mehr aushalten. Und es muss ja gestorben werden, sonst werden es zu viele Leute auf der Welt. Für mich wäre es kein Problem, auf Palliativ zu sterben. Ich hätte keine Freude, hundert zu werden, ich muss nicht mal neunzig werden. Der heiße Sommer ist schon schlimm – und nochmal einen Winter mitmachen?“
Frieda runzelt die Stirn, schüttelt nachdenklich den Kopf. Gerlinde schaut sie an, sie kennt die Ansichten ihrer Mutter. Wir schauen alte Fotos an, Frieda zeigt mir das Buch, das sie gerade liest. Ein dicker Schmöker ist das, an dem sie die vielen englischen Namen stören, sagt sie. Die Tür geht auf, herein kommt ihr Sohn, der Heini, der gleich nach der Begrüßung fragt: „Braucht’s was?“ Wir lachen und Frieda nickt bestätigt: „Der Heini ist ein Guter.“ Nein, grade braucht Frieda nichts. Wir verabschieden uns und ich sage, dass ich Frieda gern die zwei Ausgaben des ROTTALER GSICHTER MAGAZINs schicke, die sie noch nicht gelesen hat. Sie interessiert sich so für das, was junge Leute tun, sagt sie. Dazu kommt es nicht mehr.
Dreieinhalb Wochen nach meinem Besuch bei Frieda bekomme ich eine Nachricht von Gerlinde. Frieda ist gestorben, auf Palliativ. Ihr Wunsch, ihren 90. Geburtstag nicht mehr zu feiern, hat sich erfüllt. Ruhe in Frieden, Frieda.