Huey Colbinger: Vom Mut, ein Freigeist zu sein

Mit Huey Colbinger ist ein gewöhnliches Interview nicht möglich. Er erzählt sich von alleine. Und am Ende bleibt zwar so manche vorher überlegte Frage offen, doch wirkt sie nun so banal, dass sie ruhig unbeantwortet bleiben darf. Colbinger breitet sein Tun und Sein aus wie ein weiches, luftiges Tuch, von dem die ausgefransten Ecken verraten, dass es sich um ein Original handelt, das keine feste Naht um sich herum braucht. Der 43-Jährige liebt die Worte, die er gerne zerlegt, analysiert und manche davon liebt er ganz besonders.

Freigeist. Mut. Reise.

Manche Sätze, die Colbinger sagt, möchte man sich einrahmen und aufhängen. So schön formuliert er seine Erkenntnisse, seine Botschaften, die er in seinen Songs und Gedichten an die Menschen heranträgt. Er bietet an, was in seinem Innersten lebt, er drängt es niemals auf. Er lebt, was er tut und er macht keinen Unterschied zwischen Bühne und heimischem Sofa. Er ist immer Colbinger und spielt niemals eine Rolle.

Mit Huey Colbinger ist auch ein gewöhnliches Portrait nicht möglich. Er passt in keine Form, nicht mal textlich. Der Wunsch ist da, alles zu erfassen. Ich möchte ihn beschreiben, sprechen lassen, zitieren, zeigen. Ich möchte seine Präsenz so deutlich rüberbringen, denn: Es ist so schön, so wahrhaftige, echte Menschen zu treffen – das geschieht nur selten.

Wo kommst Du her?

Geboren wurde ich in Mittweida, einer kleinen Stadt in Sachsen. In einem Nachbarort bin ich aufs Landesgymnasium gegangen und nach dem Abitur nach Leipzig. Da hab ich Politikwissenschaft studiert und immer Musik gemacht. Mit Höhen und Tiefen. Aus den Tiefen sind Erkenntnisse gewachsen. Musikmachen, kreativ sein, Geschichten erzählen – das hat mich immer so gepackt, dass ich nie loslassen konnte. Darin habe ich mich gefunden. Diese Reise führt mich noch immer näher an mich heran. Das finde ich großartig.

Dazwischen ist noch eine Menge passiert. Ich habe manchmal erst Jahre später begriffen, mit welchen Leuten ich gespielt habe. Mit Leuten, die schon vorher eine Biografie hatten. Ich wusste nicht, wer die bereits waren. Ein recht betagter Mann sagte mir 20 Jahre später, dass ich ja mit Alvin Lee von „Ten Years After“ gespielt habe. Und ich wusste damals gar nicht, mit wem ich da spielte. „Ten Years After“ waren bei Woodstock dabei. Der ältere Herr war genau deshalb zu meinem Konzert gekommen. Weil ich damals mit Alvin Lee gespielt habe. Erst nachher begreifst Du, dass alles zusammengehört. Und dann gehst Du mit deiner Biografie auch anders um. Es gab aus heutiger Sicht Dinge, die ich gerne gestrichen oder vergessen hätte – aber das ist der falsche Weg. Ich hab sie angenommen. Alles, was ich erlebt habe, hat mich zu dem gemacht, der ich heute bin.

Wenn Du das begreifst, kannst du Frieden finden und ganz anders auf die Zukunft zugehen. Du wirkst dann aus einer ausbalancierten Position heraus. Jemand, der nicht im Reinen ist, wirkt immer gehetzt. Das hat sich bei mir gelegt. Ich bin bewegt, aber nicht gehetzt. Was auch ganz wichtig ist: Du musst dich all dem stellen, was Dich betrifft. Sonst schleppst Du das immer in deine Zukunft mit. Ist die Frage jetzt eigentlich beantwortet?

„Wenn Du bei Dir bist, kannst Du überall hingehen“

Colbinger macht Kaffee mit viel Milch im Glas. Die Hälfte davon wird kalt sein, ehe er sie austrinkt. Und doch wird er an diesem Abend dreimal auf diese Art Kaffee machen und trinken. Er muss sprechen, auch mit den Händen und den Augen, die hellblau leuchten. Ja, sie leuchten – und dieses Leuchten kommt von ganz tief innen heraus.

Die Frage lautete: Wo kommst Du her?

Ich komme von dort, wo ich geboren wurde. Aber für mich ist viel wichtiger, wo ich hingehe. Für unsere Herkunft können wir nichts. Viel wichtiger ist, ob Du überhaupt auf die Reise gegangen bist. Ob Du mutig bist, eigene Entscheidungen triffst und auch Bequemlichkeiten überwindest. Wenn Dir was wichtig ist, musst Du auch bereit sein, etwas dafür zu tun. Es muss sich gut und richtig anfühlen. Was daraus passiert, kann auch nur gut und richtig sein. Wenn Du nachdenkst, kannst Du auch vordenken. Das, was ich mache, ist relevant. Und es ist spannend, wo ich hingehe.

Ohne wissen zu müssen, wohin genau…

Ja. Das ist frei. Wenn Du weißt, dass Du nicht nur Spielball von Unvorhersehbarkeiten bist, dass das, was Du machst, echt ist, dann kannst Du auch Vertrauen in den Weg der Reise haben. Dann ist die Reise nichts, das Angst machen muss, sondern im Gegenteil etwas Spannendes, auf das Du Dich freuen kannst. Die meisten Menschen haben Angst vor dem Unbekannten, weil sie nicht bei sich sind. Wenn Du bei Dir bist, kannst Du überall hingehen und kommst überall klar. Du wächst dann an Deinen Herausforderungen.

Ganz viele Kalendersprüche und Weisheiten werden achtlos dahingeredet und geschwurbelt – aber es steckt Wahrheit darin. Zum Beispiel: Du wächst an deinen Aufgaben, wenn du sie annimmst. Viele Menschen versuchen, sich zu verstecken, damit sie die Aufgaben nicht finden. Sie haben Angst vor dem Scheitern, anstatt die Aufgabe als Chance zu sehen. Dabei bist du schon gescheitert, wenn du es erst gar nicht versuchst. Scheitern gibt es nicht. Da muss ich an James Watt und die Dampfmaschine denken. Ich habe 10.000 Mal etwas versucht, dann hat es geklappt. Andere sagen, ich bin 9.999 Mal gescheitert. Das erfordert Mut.

„Wenn ich im Inneren gesund bin, wird sich auch der äußere Erfolg einstellen“

Colbinger steht auf, macht nochmal Kaffee. Seine kleine Wohnung in Bad Griesbach, das ist ganz er. Er mag die Farben schwarz und rot, das ist unübersehbar. In der Mitte des Raums stehen seine Gitarren. Ringsum ein paar Möbel, zwei alte schwere Schränke, warm leuchtendes Holz, Erbstücke. Das große Bett hat er selbst gebaut. Die vielen Pflanzen begleiten ihn schon seit Jahrzehnten. Und auf der Terrasse wachsen Erdbeeren für seine Tochter. Colbinger kommt zurück, das Glas wackelt auf der Untertasse.

LEBEN. Colbinger betont jeden Buchstaben. Das Leben, sofern es denn erfüllt ist, das ist für ihn was ganz Eigenes, niemals eine Kopie, niemals ein Nachmachen, ein Nacheifern, ein Nachplappern, ein Hinterherhetzen. Ein erfülltes Leben hat vielmehr damit zu tun, sich selbst zu finden, seine eigene Nähe zu schätzen, ja, egozentrisch zu sein. Egozentrisch? Und da ist sie wieder, die Colbinger’sche Wortliebe. Nimm es wörtlich – das Ich im Zentrum, das zentrierte Ich. Gibt es denn was Schöneres, Ausgewogeneres, ja Friedlicheres? In Colbingers Zentrum steht das Ich – und das Ich, das lebt Musik…

Wann bist Du zufrieden mit einem Song?

Früher dachte ich immer, man schreibt einen Song und da ist er dann. Damit geht eine Erwartung einher: Der Song soll entdeckt werden, die Leute sollen ihn gut finden. Wenn es künstlich ist, kann es so funktionieren – nicht aber, wenn es echt ist. Wenn er darf, wächst ein Song über die Jahre und wird dadurch nie alt. Ich habe Songs, die über 20 Jahre alt sind – die klingen heute anders als noch im letzten Jahr. Die Songs bekommen die Färbung einer Entwicklungsstufe mit. Und natürlich verbessert sich auch mein Handwerk immer weiter. Das ist abgefahren.

Manchmal passiert das sogar mit dem Text – nach Jahren ist plötzlich ein einziges Wort da, das den Text leichter und flüssiger macht. Und darum ist es wertvoll, die Songs über die Zeit zu spielen. Ich schreibe also nicht Songs und gehe dann ins Studio – ich lasse sie reifen. Tragisch ist es, wenn Du Dein Leben lang nur eine Idee verwaltest. Das kann im Außen funktionieren, aber innerlich verkümmerst Du immer mehr, weil Du nicht wächst. Das ist das Drama mit den so genannten One-Hit-Wonders. Das mag zumindest finanziell eine gewisse Sicherheit geben. Aber was heißt das schon aufs Innere bezogen? Wenn ich im Inneren gesund bin, wird sich auch der äußere Erfolg einstellen. Wenn jemand mit einen Thema zu mir kommt und sich dazu einen Song wünscht, dann kann ich das nicht.

„Ich bin von einem, der auszog, den Erfolg zu finden, zu einem geworden, der sich selbst gefunden hat“

Du hast die längste Zeit Deines Lebens mit Band Musik gemacht und bist jetzt seit vier Jahren solo unterwegs. Warum der Wandel?

Weil ich das so wollte. Ein Bandgebilde als Klangkörper ist wunderbar – ich stehe auf Schlagzeug und Bass. Dass ich aufgehört habe, mit der Band zu spielen, hatte auch den Grund, weil es nicht weiterging. Und von irgendwas musst Du ja leben. Darum musste ich eine Entscheidung treffen, egal, wie hart die war. Darum habe ich mich auf mich selbst reduziert. Das war für mich die Chance, größer zu werden. Seitdem ich solo spiele, habe ich so viele Songs geschrieben wie die ganze Zeit vorher nicht. In drei Jahren habe ich Material für drei Alben geschrieben. Das betrifft auch die Tiefe der Texte. Im Bandgebilde konnte ich mich mit meinen begrenzten musikalischen Fähigkeiten ganz gut verstecken. Irgendwann habe ich aber gemerkt, dass ich meine Fähigkeiten nur noch verwalte und nicht mehr wachse.

Diesen Arschtritt habe ich gebraucht, um selbst weiterzukommen. Es hat seinen Sinn, warum gewisse Dinge passieren, auch wenn dieser nicht sofort erkennbar ist. Die Menschen haben immer Angst vor Verlusten, ohne die Chance und den Zugewinn zu sehen. Alles ist eine Reise. Hätte, könnte, vielleicht – das bringt Dich nicht weiter. Ich sehe das heute so: Ich bin der Arbeiter des Songs und nicht andersrum. Ich muss erkennen, was der Song braucht. In der Band habe ich das noch nicht verstanden. Ich bin von einem, der auszog, den Erfolg zu finden, zu einem geworden, der sich selbst gefunden hat. Der Erfolg hat sich so nicht eingestellt, wie ich zuvor Erfolg definiert habe. Dafür bin ich echt geworden.

Das wäre vielleicht nicht passiert, wenn Du einen Haufen Asche gemacht hättest…

Genauso ist es. Wenn Du nach vielen Jahren noch mehr Liebe verspürst, wenn Du das machst, was Du machst, ist es kein Job. Es ist einfach nur spannend. Ich merke, wenn eine gewisse Dynamik einsetzt. Zum Beispiel Berlin: Berlin ist schwierig, da sind jeden Abend 3000 Veranstaltungen – wenn Du nicht grade die Arena füllst, hast Du es schwer. Aber plötzlich tut sich mit ein paar Telefonaten was. Plötzlich werde ich angerufen. Das kommt von innen – nicht von außen. Ich wurde eingeladen und habe nicht versucht, einzufallen. Das ist der Unterschied. Das was tue, ist entscheidend – nicht das, was ich dadurch erreiche.

Draußen ist es schon dunkel. Colbinger knipst das Licht an – auch selbst gebaut. Hinter eigene Fotos hat er Lampen gelegt. Über dem Fernseher stehen DVDs, in einem Regal wenige Bücher, darunter Leonhard Cohens Biografie. Alle Bücher, die er gelesen hat, hat er weitergegeben. Colbinger verschränkt die Beine, die Hände sprechen mit und aus dem Haarbommel haben sich ein paar Strähnen gelöst. Beim Zuhören verschwindet die Zeit und wird relativ.

„Du musst irr und rational sein“

Du brauchst keine Bestätigung von außen, um bei Dir zu sein.

Genau so. Der Antrieb ist das Wachstum an der Sache. Ich einer Textzeile heißt es: „Man braucht nicht nur Herz, sondern auch Mut.“ Viele Menschen lassen sich von ihrem Herz leiten und fallen auf die Nase. Menschen, die irrational emotional sind, kriegen nichts auf die Reihe. Die haben keinen Notschalter. Sie werden durch ihre Emotionen bestimmt. Du kannst Dich mal eine Zeit lang verlieren, das ist ok. Aber wenn Du durch Deine Gedanken bestimmt wirst, kannst Du nie eine Reise beginnen.

Es wird immer gesagt, Künstler seien irrational. Ich sage immer: Du musst irr und rational sein. Irre bin ich, weil ich mache, was ich mache – andere können das nicht nachvollziehen. Aber Du musst ganz rational sein, um diese Reise zu machen. Du musst aufgeräumt sein. Du musst wissen, welche Werkzeuge Du wann und wie einsetzt. Du musst Dein Handwerk ganzheitlich verstehen. Leute, die auf der Reise sind, sind für mich grundsätzlich erfolgreich. Die werden nicht umgeworfen, weil mal einer kommt, der sagt, es sei nicht gut, was sie machen.

Viele Bühnenmenschen sind viel zu sehr auf den Applaus fixiert…

Ja – und nicht nur Bühnenmenschen. Es geht darum, den Dämon zu erkennen. Jeder hat irgendwas mit sich rumzutragen. Jeder hat das Kreuz mit dem Kreuz. Solange Du Dich dem nicht stellst, wird es keine friedvolle Zukunft geben. Die Musik eines Künstlers wird viel kraftvoller, wenn er seine Dinge gelöst hat. Menschen, die das geschafft haben, können die Intensität der Gefühle steuern. Das macht für mich einen gereiften Künstler aus. Der hat alle Aspekte seines Seins begriffen. Wenn ich ein ruhiges Lied spiele, muss ich mich in Bruchteilen von Sekunden da hinein bewegen. Das geht nur über Erfahrung. Viele Künstler penetrieren ihr Publikum mit ihren persönlichen Befindlichkeiten. Das wird für alle irgendwann anstrengend. Und wenn sich die „Fans“ dann abwenden, weil sie es nicht mehr hören können, springen solche Künstler vom Balkon.

Colbinger mag Sterne. Einer klebt auf seiner Gitarre, einen hat er sich auf den Oberarm tätowieren lassen, einer ziert sein Auto. Ja, und dass Colbinger Worte mag, erwähnte ich bereits. Er mag sie so sehr, dass er nicht nur Songs, sondern auch Gedichte schreibt. Gerade arbeitet er an einem weiteren Gedichtband. In seinen Gedichten werden seine Gedanken noch konkreter. Präzise und gefühlvoll drückt er sich aus – er trifft den Nagel auf den Kopf, ohne jemals den Daumen zu verletzten.

„Bedingungslos kann ich nur mit mir selbst sein“

Praktisch fällt es oft schwer, sich nicht am Außen zu orientieren. Ist das so, weil uns abtrainiert wurde, auf uns selbst zu hören?

Das Ding mit den Beziehungen ist das einfachste Beispiel. Da ist ein Mensch, der sagt, er hat Dich gern. Gibt es deshalb auch Bedingungslosigkeit? Nein. Bedingungslos kann ich nur mit mir selbst sein. Ich führe eine Beziehung mit mir selbst – ich lebe allein, kümmere mich um alles selbst. Ich stülpe niemandem meine Probleme über. Ich bin eine eigenständige Person. Das ist für mich wichtig: Eigenständig zu sein. Selbst meinen Bedürfnissen gewachsen zu sein. Bedingungslosigkeit in einer Beziehung funktioniert nicht. Das ist eine Illusion. Eine Beziehung hat immer mit Erwartungen zu tun.

Ja, das ist in jeder zwischenmenschlichen Beziehung so.

Genau. Ein Beispiel: Schatz, hast Du gekocht? – Nee, noch nicht. Und schon ist wieder Ärger vorprogrammiert. Man könnte aber auch sagen: Kein Problem, dann bestellen wir halt eine Pizza. Bei mir ist das inzwischen so: Ich bin dankbar für alles, was passiert – aber nicht sauer, wenn etwas nicht passiert. Wenn ich wo zu Gast bin und spiele, freue ich mich, was die Leute für mich tun. Dann bekomme ich die schönsten Geschenke. Das ist echte Aufmerksamkeit. Ich verlange von niemandem etwas, das ich nicht bereit bin, selbst zu tun. Ich sehe nichts mehr als selbstverständlich an. Für ein Danke brechen wir uns keinen ab. Nochmal zurück zu einer Beziehung: Es ist eine große Aufgabe, eine relativ harmonische Beziehung zu schaffen. Und die Frage muss erlaubt sein: Warum führen Menschen eine Beziehung, wenn sie immer nur Stress erleben?

„Ich habe das große Glück, mir selbst zu genügen“

Sie müssen sich fragen, warum sie Stress haben und damit konstruktiv umgehen. Ich denke, eine Beziehung geht unbedingt mit Stress einher, wenn sie in die Tiefe geht, da zwei verschiedene Leute aufeinander treffen.

In der Physik gibt es das Gesetz: Wo ein Körper ist, kann kein zweiter sein. Jeder Mensch ist ein Individuum. We are one, but we are not the same. Frauen und Männer sind obendrein noch ganz anders gestrickt. Solange wir denken, dass wir in Dualität leben, dass wir einen Seelenverwandten haben… Wenn wir diese Theorie streichen und das Hier und Jetzt genießen könnten… Es soll verheiratete Leute geben, die plötzlich feststellen, dass sie im Konstrukt der Ehe nicht das erleben können, was sie eigentlich wollen. Sie stellen fest, dass sie überhaupt nicht frei sind – dass sie nicht mal zwei Stunden wo hinfahren können, ohne sich zu erklären.

Für mich habe ich festgestellt, dass ich keine Beziehung will, wie sie die meisten Menschen definieren. Weder kann noch will ich das bedienen. Das geht komplett gegen meine Auffassung von Leben, von Freigeistigkeit. Und wenn ich mit meiner Art andere verletze, dann geht es mir natürlich auch nicht gut. Ich habe das große Glück, mir selbst zu genügen. Ich habe schon viel über Egomanie und Egozentrik nachgedacht. Und bin zu dem Schluss gekommen, ein gesunder Egozentriker zu sein. Wenn Du egozentrisch bist, hast Du eine Tätigkeit gefunden, die Dir ganz wichtig ist. Du brauchst dann keine Beschäftigung nebenher. Ich muss mich nicht erklären, warum ich das – jetzt – mache. Das ist egozentrisch und für mich gesund.

Ein Egoist ist was anderes – der manipuliert Menschen so, dass sie genau das machen, was er will. Manchmal werden egozentrische Menschen als Egoisten beschimpft. Das stimmt aber so rum nicht – die Beschimpfenden sind die Egoisten, weil sie es nicht ertragen können, dass der Egozentriker nicht nach ihrer Pfeife tanzt. Ich verlange von niemanden etwas aus Manipulation oder einem Vorteilsstreben heraus – wenn, dann stelle ich verbindliche Anfragen. Das sind eindeutige Absprachen, bei denen jede Seite weiß, woran sie ist.

Eigentlich ist es ganz einfach – und dann auch wieder nicht. Die Rahmenbedingung muss schon stimmen. Es hat viel mit der Offenheit Deiner Herkunft zu tun. Wenn ein Kind mit seinen eigenen Augen die Welt entdecken darf, hat das viel Gutes. Das ist aber oft nicht der Fall, weil die Eltern lieber begrenzen.

„Meine Augen leuchten, ich habe meine eigenen Scheinwerfer dabei und erhelle mein Umfeld“

Die Eltern begrenzen oft, weil sie alles kontrolliert wissen wollen.

Genau. Viele Menschen reden auch nur davon, gewisse Dinge tun zu wollen, kommen aber nie in die Puschen. Da bin ich lieber der Egozentriker, der mit seinem Tun der Wahrhaftigkeit immer näher kommt. Wenn ich auf der Reise bin, brauche ich keine Angst mehr haben. Ich gehe mit großen Augen in das, was andere als Dunkelheit empfinden. Meine Augen leuchten, ich habe meine eigenen Scheinwerfer dabei und erhelle mein Umfeld. Vielleicht trauen sich dann auch andere Menschen, über ihren Schatten zu springen. Jeder hat seine Möglichkeiten. Das zu erkennen, ist eigentlich total einfach. Das versuche ich bei jedem Konzert rüberzubringen. Ich habe aber keinen Plan, ich gehe ganz nach meinem Gefühl. Das ist Authentizität – die wird Dir nicht verliehen, die kannst Du Dir nur erarbeiten. Die leuchtenden Augen der Menschen sind die Bestätigung.

Und darum bist Du auf dem richtigen Weg…

Manchmal habe auch ich meine Zweifel. Das ist menschlich. Die stärksten Menschen haben oft die größten Zweifel – sie lassen sich aber davon nicht vereinnahmen. Das ist der Unterschied. In meinem Leben gab es auch mal eine Zeit, in der ich in dieser Dunkelheit hängen geblieben bin. Das ist fast 20 Jahre lang her. Ich bin dankbar, dass ich selbst herausgekommen bin – mit Musik. Erst habe ich gar nichts mehr gehört, dann tauchte ein leises Summen auf, meine Songs, die ich geschrieben hatte, meine Gefährten. Als ich wieder angefangen hatte, die Songs zu spielen, wurde es wieder hell.

Eine Frage, die Du mir nur mit einem Satz beantworten darfst: Wer bist Du?

Ich bin ein Mensch, der es bis hierher geschafft hat, gegen alle inneren und äußeren Widerstände immer weiterzumachen und sich selbst zu finden. Das bin ich. Colbinger.

Und wer ist der Kolbe am Klingelschild?

Das ist die juristische Person, das ist mein Name, mit dem ich geboren bin. Colbinger ist kein Alter Ego, das bin ich. So wurde ich schon früher beim Fußballspielen genannt. Es gibt doch diesen Spruch: Den juristischen Namen geben Dir Deine Eltern, dafür kannst Du nichts. Den wahren Namen gibt Dir das Leben, wenn Du Dich ihm stellst.

Colbinger stellt sein leeres Glas ab. Die Luft riecht nach Kaffee und kleine Gedankenwirbel sausen herum. Es knistert mitternächtlich. Alle Dinge im Raum strahlen eine selbstverständliche Ruhe aus. Der Mensch Colbinger auch. Er ruht in sich und ist gleichzeitig so lebendig, so präsent, so unabgelenkt und einfach hier. Im Jetzt. Egal, wie spät es ist. Egal, wo. Er winkt, die Tür fällt ins Schloss, der Blick aufs Klingelschild. Der Bad Griesbacher Stadtplatz liegt leer und ruhig da, die Nacht ist frisch und die Gedanken sind es auch. Der Eindruck ist bleibend.

Nachtrag: Das Interview wurde im Frühsommer 2019 geführt und erschien in der ersten Print-Ausgabe des ROTTALER GSICHTER MAGAZINs. Ende Oktober 2020 erschien sein zweites Akustik-Solo-Album und erster Teil der Trilogie „SÜNDER.PILGER & REBELL“. Zehn Stücke in deutscher Sprache als Essenz der persönlichen Erfahrungen, Beobachtungen und Erkenntnisse daraus. Akustisch pur und vor allem auf das Wesentliche reduziert, um den Kern des Anliegens freizugeben. Das, was das Leben bereithält, gilt es zu erfahren, zu erleben und nicht davor zu entfliehen. Alles steckt in Dir, in diesem Fall der SÜNDER. 

Das Rotter Gsichter Magazin
Das Rottaler Gsichter Magazin

Print ist das neue Digital! Die Rottaler Gsichter gibt’s ab 1. Juli 2019 auch als MAGAZIN! Wie gewohnt mit Portraits von Rottalern – und obendrein mit mehr Gschichten, Menschen, Gedanken und Einblicken. Zum Anfassen. Aus Papier. In Echt.

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Ein Kommentar

  1. Danke für das lange gehaltvolle Interview. Ich habe Huey Colbinger im Juni bei einer Präventionsveranstaltung in Garching zufällig kennengelernt und kann das oben Geschriebene in vielen (emotionalen) Teilen bestätigen. Was ich noch nicht über ihn wusste, habe ich jetzt erfahren. Und das Schöne daran ist, es passt alles zusammen: das vorher unbewusst Wahrgenommene und das eben neu Kennengelernte. Ich freue mich nun umso mehr, seine Musik-Gedanken- und literarische Reisewelt weiter erforschen zu können. Ich bin sicher, die Zeit dafür wird sich ebenso lohnen wie es sich gelohnt hat, diesen Artikel zu lesen. Kompliment an beide Protagonisten!

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