Das historische Portrait: Manfred Otto Thasler – Zuhause im Rottal (2)

Im ersten Teil seiner Erinnerungen beschreibt Manfred Otto Thasler die Flucht aus seiner Heimat Niederschlesien mit Mutter und Schwester Edith. Er erzählt von Angriff und Beschuss, von der Zuteilung in ein unbekanntes Dorf, einer unbekannten Familie. Langsam fühlt sich die unvollständige Familie angenommen. Wie es weitergeht, ist hier zu lesen:

Ein neues Zuhause

Unser neues Daheim in Dobl (Foto: Thasler)

Die Wohnsituation in Bayerbach stellt sich im Herbst unbefriedigend dar, sodass wir mit Hilfe von Wiggs Ortskenntnissen nach einer besseren Bleibe Ausschau halten. Wir werden nach Vermittlung des Bürgermeisters in Dobl fündig. Hier bietet sich für damalige Verhältnisse eine ideale Gelegenheit. In einem Austragshäusel neben einem stattlichen Vierseithof. Eigener Zugang, zwei Zimmer, winzige Küche im ersten Stock plus Dachboden und Innentoilette. Wobei letzteres ein angebauter Holzverschlag ist, der auf gleicher Etage in luftiger Höhe die Exkremente in eine tiefer gelegene Grube fallen lässt und somit geruchlos ist. Die Küche hat einen offenen Kaminabzug, in den das Ofenrohr vom Herd hineinragt. Dadurch entweicht die Wärme in den offenen Schornstein. Hierin wurde früher das Fleisch geräuchert. Geselchtes Fleisch ist in Niederbayern mangels anderer Haltbarkeitsmöglichkeiten üblich. Manches wurde an Fleisch und Wurst auch eingeweckt.

Im Wohnraum, der auch meiner Mutter als Schlafraum dient, steht ein Kanonenofen. Im zweiten Raum schlafen meine Schwester und ich – das Zimmer bleibt aber unbeheizt. Alles in allem ist das neue Zuhause im Vergleich zur vorigen Herberge ein großer Fortschritt. Im Erdgeschoss befindet sich ein großer Raum, eine Art Eingangshalle. Hier gibt es ein Wasserbecken mit fließendem Brunnenwasser, das uns mit dem wertvollen Nass versorgt. Außerdem befindet sich hier der große Backofen, in dem alle zwei Wochen Brot gebacken wird. Der große Kartoffeldämpfer wird täglich befüllt, damit die Schweine versorgt werden können. Was sich als großer Vorteil herausstellt, ist die Unabhängigkeit vom bäuerlichen Arbeits- und Lebensrhythmus. Niemand geht sich im Wege um, wir haben getrennte Lebensbereiche.

Dobl liegt in einem Tal und bestand damals aus vier stattlichen Bauernhöfen. Ein Weiler mit einer nicht mehr aktiven Schmiede. Dann der Zeindlhof, der etwas seitlich leicht erhöht liegt und eine eigene Zufahrt und eine Kapelle hat und von Obststreuwiesen umringt ist. Die neue Adresse können wir auch unserem Vater nach Faulbrück übermitteln. Er weiß, dass wir in Bayern gelandet sind, denn bis zum Zusammenbruch konnten wir auf dem Dienstweg der Reichsbahn von Bahnhof zu Bahnhof telefonieren. Dann brach jedoch der Kontakt ab und die Ungewissheit über die gegenseitigen Schicksale setzt uns zu. Es wird über ein Jahr dauern, bis wir ein neues Lebenszeichen hören. Das Leben in Dobl gibt uns neue Hoffnung, wenn auch ohne Vater und ohne Gewissheit, was wohl mit unserem Bruder Erwin in den letzten Kriegswochen geschehen ist. Er gilt als vermisst und war gerade 20 Jahre alt. Über sein Schicksal sollten wir erst im Jahr 1959 Gewissheit erhalten: Dann übermittelt uns der Suchdienst die traurige Nachricht, dass er 1945 im November in einem russischen Kriegsgefangenenlager verstarb.

Verlobt: Edith und Wigg

Edith und Wigg: Ausflug mit Motorrad und Beiwagen (Foto: Thasler)

Im Austragshäusel können wir uns allmählich einrichten und uns mit den Hofherren arrangieren. Mutter hilft der Bäuerin in der Küche, was sich mit der Zeit bis zur Mitarbeit im Stall ausweitet. Sie lernt Melken und arbeitet auch auf dem Feld mit. Die Entlohnung erfolgt in Form von Lebensmitteln. Meine Schwester Edith versucht sich als gelernte Schneiderin mit Näharbeiten durchzuschlagen. Sie geht zu den Bauern auf die Stör und gewinnt mit der Zeit eine reichliche Kundschaft. Der Bedarf an neuen Kleidungsstücken ist groß, die Fantasie kennt keine Grenzen. Aus Wehrmachtsmänteln werden neue Kleidungsstücke gezaubert. Jede Frau versucht in der knappen Freizeit mit Stricken oder Häkeln etwas Neues und Brauchbares zu gestalten.

Aus der Freundschaft von Edith und Wigg wird eine feste Verbindung. Als ich mit Mutter eines Abends auf dem Rückweg von Weng, wo wir die Flüchtlingsfamilie Dittrich besucht hatten, gerade auf der Höhe von Parzham auf der staubigen Landstraße heimwärts gehe, stoppt ein Auto Marke Opel vor uns und wir werden aufgefordert, einzusteigen. Wigg sitzt am Steuer, daneben meine Schwester. Stolz verkünden sie uns, dass sie sich verlobt haben, was an einem silbernen Ring an Ediths Finger zu erkennen ist. Nun, Mutter ist natürlich sehr überrascht und es ist ihr auch eine gewisse Skepsis anzumerken, sie fügt sich aber der Entscheidung der jungen Leute. So wird Wigg ein Teil der Familie. Parzham, wo uns Wigg und Edith auflesen, ist ja der Geburtsort von Bruder Konrad. Das soll ein gutes Omen sein. Ich bin jedenfalls froh, dem langen Fußmarsch entgangen zu sein. Den Benzingeruch im Auto, das ein ausgedientes Militärfahrzeug ist, finde ich ganz toll! Ein Gefühl von einem gehobenen Lebensstandard macht sich in meinem Kinderherzen breit.

Wigg ist Jahrgang 1924, zu der Zeit also 21 Jahre jung. In diesem Alter hat er schon mit einer Kriegsverletzung zu kämpfen, da er 1943 in Russland verwundet wurde. Das Ellenbogengelenk am rechten Arm wurde zerschossen, so dass es im Neunziggradwinkel versteift ist. Er muss somit den linken Arm stärker belasten als den rechten. Dies war auch der Grund und vielleicht sein Glück, dass er in den letzten Kriegsmonaten nicht mehr eingezogen wurde. Zu der damaligen Zeit ist es ein gewohntes Bild, Kriegsversehrten im gesellschaftlichen Alltag zu begegnen. Sie ertragen tapfer ihre Schicksale und es erstaunt immer wieder, wie leistungskräftig sie ihren Berufen und Tätigkeiten trotz großer körperlicher Behinderungen nachgehen.

Wenn ich als Neunjähriger auf dem Sozius des Motorrads meines zukünftigen Schwagers mitfahren darf, er schneidig mit seiner 500er NSU in die Kurven geht, habe ich jedes Mal größte Probleme mit der Atemluft, da sich hinter seinem Rücken der Luftstrom auf meinem Zwerchfell zusammenballt. Durch seine Armverletzung sitzt er nicht aufrecht, sondern schräg nach vorne gebeugt, sodass eine Lücke zwischen Fahrer und Beifahrer auf dem Sozius entsteht. Ich muss mich also bemühen, möglichst nah an seinem Rücken die Lücke zu schließen, um atmen zu können.
Allmählich gelingt es Mutter, von ungarischen Flüchtlingen, die auch in Bayerbach gestrandet waren, aber teilweise eigene Möbel retten konnten, gegen Naturalien im Tausch eine Schlafcouch und einen Sessel mit gepolstertem Hocker zu ergattern, was unsere Wohnstube etwas gemütlicher macht.

Herbst und Winter des Jahres 1945 stehen vor der Tür, also muss in allen Belangen Vorsorge getroffen werden: Lebensmittelvorräte, im Wesentlichen Kartoffeln, zu beschaffen, Holz und Kohle und auch warme Sachen, vor allem brauchbares Schuhwerk. Hierfür gibt es Bezugsscheine, die von der Gemeinde zugeteilt werden. An bestimmten Sammelstellen können sie bezogen werden. Da liegt ein großer Haufen Schuhe aller Größen aufgestapelt, ziemlich roh „gezimmert“, lederfarbig. Man versucht, die passende Größe aus dem Stapel herauszufinden, wenn überhaupt noch welche da sind. So wird der Organisationssinn frühzeitig geschult.

Erntezeit und Rottaler Schmalznudeln

Winterabend in Dobl (Foto: Thasler)

Der Herbst ist eine tolle Zeit: Überall in den Gärten und auf den Feldern wachsen Früchte heran, die in vollen Zügen genossen werden, denn Hunger ist uns Kindern natürlich ein ständiger Begleiter. Am schönsten habe ich die Zeit des Dreschens in Erinnerung! Wenn das Getreide geerntet, in der Scheune gestapelt und gelagert ist, bis es schließlich in die Dreschmaschine kommt und die Körner in die Getreidesäcken abgefüllt und auf dem Rücken zum Getreidespeicher quer über den Hof in den ersten oder zweiten Stock geschleppt werden. Am aufregendsten ist es, wenn die Dresch- und Dampfmaschine, der Antrieb also, von einem Gehöft zum anderen transportiert wird. Dies geschieht mit vier oder auch sechs Pferdestärken und großen Anfeuerungsrufen. Je nach Hofgröße dauert das Dreschen zwei bis drei Tage. Es ist Schwerstarbeit und sehr staubig dazu. Die Bäuerin hat in ihrer Küche Hochbetrieb, sie muss für 20 Personen gutes Essen kochen.

Nachdem die Arbeiter gegessen haben, ist es üblich, dass wir Kinder aus der Nachbarschaft uns an der Haustür aufreihen und uns nach Aufforderung der Bäuerin auf die Speisereste stürzen dürfen. Wenn wir Glück haben, bringt uns die Bäuerin noch zusätzlich Essbares aus der Küche. Zum Abendbrot gibt es die üblichen Rottaler Schmalznudeln, die ich bis heute als meine Lieblingsspeise betrachte. Rückblickend gesehen, galt diese Art der Versorgung als große soziale Gesinnung und Solidarität uns Kindern gegenüber.

Der Herbst bedeutet auch die Zeit des Kühe-Hütens: Bis in den November hinein wird das Vieh auf den Wiesen gehalten. Da wir immer noch keine Schule haben, bin ich mit den Kühen den ganzen Tag auf der Weide. Es bietet sich genügend Zeit, um ein Kartoffelfeuer anzuzünden, oder aus Weidenzweigen Pfeiferl zu schnitzen, wenn nicht die Kühe Ärger machen und ausbrechen oder in ein benachbartes Gelände laufen. Um halb fünf Uhr wird zum Melken heimgetrieben. Wir Kinder sind somit eng mit dem bäuerlichen Leben vertraut.

Unsere Kaninchenzucht

Zur Fleischbeschaffung tragen auch die Jugendlichen bei: in Form von Kaninchenzucht. Jede Flüchtlingsfamilie hat sich einen Hasenstall gebaut und es obliegt den Kindern, die Tiere zu versorgen. Wir schwärmen tagsüber aus, um Futter zu organisieren. Maistöcke (Löwenzahn), Klee, Bärenklau und Maiskolben. Nach der Heuernte gehen wir mit einem Rechen über die abgeernteten Wiesen und sammeln auf diese Art Vorrat für den Winter. Wenn die Häsin, nachdem wir sie beim Rammler in der Nachbarschaft haben decken lassen, nach 28 Tagen anfängt, ihr Nest zu bauen, wird es spannend. Meistens wirft sie ihre Jungen nachts. Wenn ich morgens den Stall inspiziere, rührt sich in der Ecke unter flaumigen Fellhaaren das junge Leben. Nach zehn Tagen machen die Jungen die Augen auf und beginnen zögerlich, das Nest zu verlassen. Spätestens dann besteht Gewissheit, wie groß der Wurf ausgefallen ist. Meistens gibt es Promenadenmischungen – ein buntes Durcheinander von Fellfarben.

Wenn sie dann größer werden, müssen die Hasen voneinander getrennt werden. Dann werden die jungen Rammler kastriert. Dies geschieht ohne Betäubung mit Hilfe einer Rasierklinge. Die Wunde wird mit Schweineschmalz beschmiert und nach einigen Tagen sind die Haserl wieder putzmunter. Der Schlachttag kommt unweigerlich näher und wird für mich als Kind mit einer wehmütigen Trennung und Traurigkeit erlebt. Das Fell bringen wir zum Gerber und erhalten so eine Erinnerung, die zu einem wärmenden Kleidungsstück verarbeitet wird. Hasenfleisch ist äußerst schmackhaft und gesund. Ich bekomme immer den Kopf, den ich mit Akribie zerlege.

Weihnachten 1945

Das erste Weihnachten in der Fremde naht. Zunächst kommt der Nikolaus in Begleitung vom Krampus, der zum Kettenrasseln vor der Haustüre bleibt. Die Bäuerin schüttet auf dem großen Tisch Nüsse, Äpfel, Dörrobst und Leckerl aus, alle, einschließlich Knechte und Mägde sitzen um den Tisch herum und freuen sich ob der guten Gaben. Auch wir vom Austragshaus dürfen mit am Tisch sitzen und sind Teil der Gemeinschaft. Meine Schwester Edith hat in dieser vorweihnachtlichen Zeit Großeinsatz in der Nähstube. Nicht nur Kleider für Erwachsene werden genäht, sondern auch für die Kleinste: Enkelkind Olgas Puppenkleider werden erneuert. Edith staffiert mit viel Geschick, Geschmack und Geduld die etwas vernachlässigte Puppenstubengarderobe aus. Zur hellen Freude der Großfamilie ist die Weihnachtsüberraschung gelungen, noch dazu in dieser mageren Zeit!

Zum Weihnachtsfest wieder zuhause zu sein und die Hoffnung auf ein Wiederfinden von Vater und Bruder bleiben jedoch unerfüllt. Kein Lebenszeichen… Das trübt das Weihnachtsfest 1945. Für mich bleibt es dennoch in einer freudigen Erinnerung haften, denn trotz der tristen Zeiten scheinen meine Schwester und Mama mich zu überraschen. Am Nachmittag des Heiligen Abends beginnen wir mit dem Aufstellen und Schmücken des Christbaums, der allerdings nur winzig klein ist und auf einem Tischchen steht. Außer Lametta und einige selbstgemachten Kerzen ziert das Bäumchen wenig.

Nach dem Essen, das wie immer aus Kartoffelpüff (Püree) mit Sauerkraut und einigen Bratwürstchen besteht, steigt die Erwartung. Ich erhoffe mir nicht viel, denn womit sollen die Kinderwünsche erfüllt werden? Als ich dann das Zimmer mit dem erleuchteten Bäumchen erblicke, stehen da tatsächlich ein Paar Skier mit einer kompletten Bindung und mit Stöcken! Tatsächlich richtige Skier aus Holz, die Bearbeitungsspuren sind zu erkennen. Naturfarben unlackiert mit geschwärzten hochgezogenen Spitzen, Metallbacken und Lederriemen. Die klobigen Winterschuhe passen einigermaßen rein, denn Skischuhe gibt es natürlich nicht, die normalen Straßenschuhe müssen dafür herhalten. Die Skistöcke entstanden aus Haselnussholz mit Metallspitzen am Ende. Und wer ist der Initiator? Natürlich unser Wigg! Er hat mit dem Schreiner Ludwig Garbereder, dem Gabreda Lugge, dieses Wunder vollbracht. Der Winter kann also kommen. Übungshänge gibt es zur Genüge, denn Dobl liegt ja in einem Talgrund. Somit beginnt bei ausreichendem Schneefall die Skisaison in Niederbayern mit „learning by doing“.

Das Leben geht weiter

Faschingstanz beim Wirt z’Bayerbach (Foto: Thasler)

Damit viele Wunden schneller heilen, die der Krieg gerissen hatte, blüht eine neue Zeit wieder auf, die man Fasching nennt. Öffentliche Veranstaltungen sind noch spärlich erlaubt, so weichen die jungen Menschen zu privaten Faschingsfeiern aus. Hier bieten sich die großen Höfe mit ihren Bauernstuben an. Dort treffen sich die Menschen zum Tanz und zur Faschingsgaudi. Meistens reicht ein Akkordeon- und Mundharmonika-Spieler aus, um für die nötige Stimmung zu sorgen. Es werden Sketche, Schuhplattler- und Gesangseinlagen geboten. Der Hausherr spendiert die Getränke aus seinem Mostkeller und zu später Stunde torkelt die Gesellschaft wieder heimwärts durch die Nacht. Auch wir Kinder haben Faschingsspaß. Wir kostümieren uns und ziehen tagsüber in Gruppen von Haus zu Haus, immer mit der Absicht, die Menschen aufzumuntern und dabei eine Belohnung in Form von Naturalien einzusammeln.

Faschingsgaudi (Foto: Thasler)

An Schule ist nach wie vor nicht zu denken. Wenigstens haben wir Religionsunterricht, nicht in der Schule, sondern im Gasthaus zum Bender, heute Rieger. Die Flüchtlinge sind überwiegend Protestanten und zufällig taucht ein entlassener Kriegsteilnehmer auf, der als Pfarrer wieder Anschluss an das zivile Leben in der Diaspora findet und seine Schäflein zu betreuen versucht. Die Gottesdienste finden unregelmäßig in der katholischen Kirche statt, meistens am Sonntagnachmittag. Dies gleicht ebenso spontanen wie unverhofften Heimattreffen, kommen doch aus den verstreuten Ortsteilen alle wieder einmal zusammen und können sich austauschen und gegenseitig mit guten und schlechten Nachrichten trösten.

Das Frühjahr kommt näher und damit auch die Osterzeit. Die Bäuerin Frau Zeindl macht mich auf einen Brauch aufmerksam, den ich doch auch nützen sollte, um einen Vorrat an Ostereiern zu gewinnen. Daraufhin suche ich in der Umgebung alle Bauernhöfe auf, klopfte an, wünsche frohe Ostern und bitte die Bäuerin um ein rotes Ei. „Bittgorschee um a rouds Oa!“ Woraufhin ich in der Regel ein rotes Ei erhalte. Somit steigere ich meine Ausbeute beträchtlich.

Die Bauernfamilie

„Im Märzen der Bauer die Rösslein einspannt…“ – ja unser Bauer Zeindl (auch Moar) Max beginnt mit dem Frühjahr auszusäen. Alle Knechte und Mägde werden aktiv. Bauer Zeindl ist ein stattlicher, hochgewachsener Mann, der immer mit einer langen Fasanenfeder am Hut bestückt einherläuft, egal ob es regnet oder die Sonne scheint. Jedes Mal, wenn er aus dem Haus geht, das heißt durch die Küchentür ins Vorhaus schreitet, was täglich x-mal passiert, greift seine rechte Hand in den Weihwasserkessel und besprengt sich mit dem heiligen Wasser. So meine ich, hat er wahrscheinlich den Segen für seine tägliche Arbeit erbeten. Er ist ein aufgeklärter Patriot und hat sich nicht gescheut, seinen Sohn Max , der als Soldat in Schlesien verwundet im Lazarett lag, auf eigene Faust mit dem Zug zu sich nach Bayern zu holen. Bei dieser Gelegenheit hat er die Weite des Schlesierlandes und dessen Fruchtbarkeit mit eigenen Augen gesehen und ist uns gegenüber aufgeschlossener als manch andere Rottaler.

Sohn Max ist durch seine Verwundung – ebenso wie Wigg – mit einem steifen Arm bei der bäuerlichen Arbeit stark beeinträchtigt. Es ist nachträglich bewundernswert, wie sie mit der Sense Heu und Getreide gemäht haben oder schwere Lasten wie Getreidesäcke transportierten, von der mühsamen Waldarbeit ganz zu schweigen. Cilli, die Tochter der Bauersleute, hat es etwas schwerer, denn sie ist schon als junge Frau Witwe geworden, bringt aber mit ihrer sechsjährigen Tochter Olga Freude und Leben auf den Hof. Cillis Aufgabe besteht im Hausputz, Hühnerstall, Wäsche waschen, was mit der Hand und Bürste auf einem großen Tisch erfolgt, denn Waschmaschine gab es noch keine.

Die Bäuerin ist ausschließlich in der Küche beschäftigt, um für rund 14 Leute das Essen zuzubereiten. Hier hat Frau Zeindl die Hilfe von meiner Mutter und gelegentlich kam eine Ungarin mit Namen Frau Gieseke und bringt Abwechslung in den bäuerlichen Speiseplan. Sie zaubert einen Apfelstrudel, dessen Teig so dünn ausgezogen wird, dass er den großen Bauerntisch überspannt. Mit den Äpfeln aus dem eigenen Garten und mit Hilfe eines großen Leintuchs rollt die Frau den Strudel zusammen, der dann im großen Backrohr zu einer Köstlichkeit wird. Mehlspeisen sind zum Abendessen üblich: Apfel- und Kartoffelstrudel, Rohrnudeln, Schusterbuben, Dampfnudeln, geschnittene Nudeln in Mohn und Fett gewälzt. In der Regel wird kalte Milch dazu gereicht. Der Mittagstisch besteht aus gekochtem Schwarzgeräucherten mit Roggenklößen, sogenannte G’wichste, mit Kraut oder Pichelsteiner. Freitag ist Fasttag, da gibt es Kaiserschmarrn oder Pfannkuchen. Frischfleisch gibt es nur an Schlachttagen mangels Kühlmöglichkeiten. An Festtagen und in der Erntezeit wird Schmalzgebäck aufgetischt wie zum Beispiel die berühmten Auszogenen, Kiachaln oder Hasenöhrl (aus Roggenmehl).

Selbstverständlich Selbstversorger

Sommernachmittag in Dobl (Foto: Thasler)

Nachdem die Felder alle bestellt und im April auch die Kartoffeln gelegt sind, wartet man auf ausreichenden Regen, damit alles keimen und wachsen kann. Auch wir müssen vorsorgen, dafür teilt uns der Bauer eine Kartoffelfurche (Bifing) zu, die teilweise in Gartenbeete umgewandelt wird, sodass Gemüse wie Salat, Gurken, Bohnen, Kraut, Kohlrabi, Tomaten wachsen können. Der Rest der Furche eignet sich für Kartoffeln. Ich versuche, ein Beet mit Tabakpflanzen zu belegen, in der Hoffnung bei ausreichender Ernte die eine oder andere Zigarette oder Zigarre zu drehen. Dieser Gartenanteil liegt einen Kilometer entfernt in der Landschaft, so ist es mühsam, bei Trockenheit Wasserkannen zu schleppen. Die eine oder andere Bepflanzung wird manchmal Opfer von Wildverbiss. Das Trachten ist bestimmt durch die Suche nach dem elementarsten Bedürfnis des Lebens: Nahrung. In erster Linie gilt es, das tägliche Essen zu organisieren. Durch den Arbeitseinsatz auf dem Bauernhof ist eine gewisse Grundversorgung gegeben. Trotzdem überwindet sich meine Mutter, wöchentlich im Umkreis des Weilers zu gehen und auf Deutsch gesagt zu betteln.

Die Erntezeit, wenn das Getreide reif und prall auf dem Feld steht, bildet die Hauptattraktion des Jahres. Ohne Vollernter, nur mit Sense und Muskelkraft, wird das Getreide gemäht, gebündelt zu Mandeln aufgestellt und nach einigen trockenen Tagen in die Scheune heimgefahren und im Stadel gelagert, bis Zeit zum Dreschen ist. Nachdem die Felder abgeerntet sind, haben wir Flüchtlinge die Gelegenheit, Ähren zu lesen. Das heißt, die restlichen Ähren, die sich auf dem Feld noch vorfinden, werden mühsam eingesammelt und beim Dreschen mit Stolz in Körner verwandelt. Die Ausbeute ist minimal, aber 20 bis 30 Pfund Körner ergeben in der Mühle auch zehn Pfund Mehl.

Ich darf als Hüterbub die Gänse und fünf bis sechs Schweine auf die Felder treiben, um so noch die letzten Körner zu verwerten. Auch nach der Kartoffelernte gilt es auf den Feldern nachzulesen. „Kartoffelstoppeln“ ist an der Tagesordnung und hierfür eignen wir Kinder uns gut und können uns nützlich machen. Mit Hacken durchpflügen wir per Hand die aufgelösten Furchen auf der Suche nach Restkartoffeln. Der Acker ist geradezu steril gepflegt, sodass für ein Kartoffelfeuer kaum noch Kartoffelmasse übrigbleibt.

(Endlich) wieder Schule

Schulpflicht ist angesagt! Nach knapp zwei Jahren Unterrichtspause können wir ab Herbst 1946 wieder an einem geregelten Schulunterricht teilnehmen. Den früheren Lehrern ist es nicht mehr erlaubt, zu unterrichten. Es herrscht Lehrermangel und nur provisorisch ausgebildete Lehrer oder aus der Gefangenschaft entlassene ehemalige Lehrer stehen zur Verfügung. Ihre Verantwortung als NSDAP-Mitglied wird durch ein Gremium bewertet und erst ein Freispruch ermöglicht es, wieder in den Schuldienst übernommen zu werden. So ergibt sich für junge Leute mitunter die Chance, auch ohne Studium als Lehrer zu dienen.

Ich erinnere mich, monatelang als Hausaufgabe das Thema „Mein Tagebuch“ aufbekommen zu haben und die vier Grundrechnungsarten einüben zu müssen. Der Schulweg von Dobl nach Bayerbach quer über Felder und Hügel ist abwechslungsreich, aber im Winter beschwerlich, gibt es doch keinen Schneepflug geschweige denn Schulbusse, der Weg wird selbst getreten und das bei ungenügendem Schuhwerk. So kommt man mit nassen Füßen in der Schule an und freut sich, wenn der Hausmeister den Kachelofen im Klassenzimmer eingeheizt hat.

Post von Vater

Der Herbst 1946 war nicht nur gülden reich und bunt gefärbt, sondern hat für uns eine frohe Botschaft parat: Am 9. Oktober 1946 hält meine Mutter nach über einem Jahr Ungewissheit ein Lebenszeichen meines Vaters in den Händen, in Form einer Postkarte mit folgendem Inhalt:

Abs. Fritz Thasler Umsiedlungslager Possen/Elbe über Bad Schandau: „Liebe Muttel! Euch zur Mitteilung, dass ich am 16.9.1946 Faulbrück verlassen musste. Wir Letzten von Faulbrück bis auf nur ganz wenige (20) Mann befinden uns z. Zt. auf 14 Tage im Durchgangslager Possen. Neue Adresse bitte abwarten. Bin gesund und munter und hoffe dergleichen auch von Euch. Von Konrad erhielt ich die letzten Tage von Wiesbaden Post. Er ist aus der Gefangenschaft entlassen und hat dort Arbeit gefunden. Ich weiß nicht, wie lange die Post geht. Wir sind den 3. Tag hier. Post von Euch wird also hier kaum ankommen. Vermeintlich geht es von hier nach Leipzig zur Verteilung. Es grüßt herzlichst Fritz und Vater“.

Tränen vor Freude rinnen meiner Mutter über die Wangen, ist es doch nicht nur ein Lebenszeichen, sondern Vater kündigt auch seine baldige Ankunft in Dobl an. Die Hoffnung auf eine absehbare Familienzusammenführung ist groß.

König Fußball

Obwohl durch den neuerlichen Schulbesuch die Freizeit eingeengt wird, gilt es doch nachmittags dem Fußball zu frönen. Gleich nach dem Krieg gab es keine Bälle, sodass mit aufgeblasenen und getrockneten Schweinsblasen (Saublodan) gespielt wird, die jedoch meist nicht lange halten. Also, wie kommen wir zu einem richtigen ledernen Fußball? fragen wir uns. Es ergibt sich allerdings die Chance, beim Schuster eine Ballhaut aus Lederresten zusammennähen sowie eine passende aufblasbare Innenhaut machen zu lassen. Wenn auch der Ball eine leichte Unwucht besitzt und beim Verschießen etwas eiert, so dient er doch ausgezeichnet dazu, die Fußballbegeisterung wachsen zu lassen.

Die Kuhweide bietet eine willkommene Gelegenheit, ein Fußballstadion zu imitieren. Es bildet sich bald eine eingeschworene Mannschaft: Helmut, Günther (Familie Bartsch), Dieter und Norbert (Familie Seidl) und ich. Ärgerlich wird es allerdings, wenn der Ball in die Hinterlassenschaften der auf der Weide grasenden Rindviecher fällt und entsprechend parfümiert wird. Als Torstangen pflegen wir unsere Hemden zu verwenden, was eines Tags dazu führt, dass ein Hemd fehlt. Das Geheimnis lüftet sich erst nach Tagen im Kuhstall, als ein hemdsähnliches Gebilde aus dem Hinterteil einer Kuh herausragt. Es ist natürlich nicht mehr zu gebrauchen, hat es doch den kompletten Verdauungszyklus durchlaufen. Wenn nicht Fußball gespielt wird, so bietet sich als nützliche Freizeitbeschäftigung im Herbst bis in den November hinein das Kühehüten an, auch im Interesse des Bauern. Aus ökonomischen Gründen lässt sich das nach der zweiten Mahd nachgewachsene Gras als nützliches Zusatzfutter verwerten.

Vater kommt nach Dobl

Als ich eines Tages verspätet nach Hause komme, öffnet mir ein älterer Herr die Wohnungstür. Tatsächlich, es ist mein Vater, den ich zwei Jahre nicht mehr gesehen habe. Bei aller Wiedersehensfreude verspüre ich eine leichte Entfremdung, ist er doch sehr abgemagert und sein Haar hat einen weißgrauen Schimmer bekommen. Bei der innigen Umarmung aber kehren durch den vertrauten Körpergeruch die alten Gefühle zurück und bestätigten die Familie.

Auch der Kontakt zur Familie Zeindl ist schon ganz spontan hergestellt worden, denn durch Zufall war unser Bauer am Bahnhof in Bayerbach, als Papa aus dem Zug stieg und sich nach dem Weg erkundigte. So konnte Papa seinen Reisekorb, an den er sich Räder gebastelt hatte, auf den Pferdewagen laden und wurde bequem nach Dobl gebracht. Die Familie ist nun fast komplett, es fehlt uns aber noch der Bruder Erwin.
Erwin aber hat bereits, wie sich erst Jahre später herausstellen sollte und durch einen Kameraden bestätigt wurde, sein Schicksal im fernen Kirgisien gefunden. Aber das ist eine andere Geschichte…


Manfred Otto Thasler ist heute 84 Jahre alt. Auf dem Titelbild sitzt er mit seiner Franziska auf der Hausbank.

Das Rotter Gsichter Magazin
Das Rottaler Gsichter Magazin

Print ist das neue Digital! Die Rottaler Gsichter gibt’s ab 1. Juli 2019 auch als MAGAZIN! Wie gewohnt mit Portraits von Rottalern – und obendrein mit mehr Gschichten, Menschen, Gedanken und Einblicken. Zum Anfassen. Aus Papier. In Echt.

Hier gibt’s weitere Infos…

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert