Das historische Portrait: Manfred Otto Thasler – Flucht aus Niederschlesien (1)
Wenn sich ein 84-jähriger Mensch an die Ereignisse vor 75 Jahren zu erinnern versucht, birgt das sicherlich die Gefahr der Ungenauigkeit in sich. Das Erinnerungsvermögen lässt langsam zu wünschen übrig, das ist der Zahn der Zeit. Es sollte jedoch einen Versuch wert sein, sich der vergangenen Ereignisse noch einmal bewusst zu werden. So einschneidend waren sie für ungeheuer viele Menschen, die Flucht und Vertreibung mitgemacht haben. Aus heutiger Sicht und speziell für die jüngeren Generationen mögen die Ereignisse von 1945 und der darauffolgenden Jahre unvorstellbar sein. Sie sind prägend gewesen für den ungeheuren Aufbauwillen der Nachkriegszeit.
Zuhause in Faulbrück
Beginnen wir im Jahr 1944/45: Da bin ich ein achtjähriger Bub. Ich erlebe lange Flüchtlingstrecks, die sich bei eisiger Kälte auf der Chaussee in Richtung Eulengebirge schlängeln. Der Bahnhof, an dem mein Vater Bahnhofsvorsteher ist, ist mein Zuhause. Faulbrück heißt der Ort, der an einer zweigleisigen Eisenbahnstrecke zwischen Schweidnitz und Reichenbach in Niederschlesien liegt. Heute heißt Faulbrück Moscisko und liegt in Polen. Faulbrück stellt für sieben Dörfer den wichtigsten Umschlagsort von überwiegend landwirtschaftlichen Produkten wie Zuckerrüben, Kartoffeln und Getreide dar. Die nächste Bahnstation ist Kreisau. Das flache Land ist fruchtbar und bei den Bauern gibt es viele polnische Zwangsarbeiter. Sie müssen sich durch ein deutlich zu tragendes „P“ als Zwangsarbeiter kenntlich machen und es ist strengstens verboten, ihnen beispielsweise eine Fahrkarte zu verkaufen, wenn sie in die nächste Stadt wollen, um vielleicht einen Arzt aufzusuchen. Ihre Bewegungsfreiheit ist äußerst eingeschränkt und ständigen Kontrollen ausgesetzt.
Auch fahren ständig lange Güterzüge mit Kriegsgefangenen durch den Bahnhof, die in das innere Deutschland verfrachtet werden. Manchmal machen die Transporte halt, dann werden die gefangenen Soldaten ausgeladen und in das anliegende Zwischenlager, eine ausgediente Ziegelei, getrieben. Dort müssen sie zum Teil unter freiem Himmel kampieren. Als Kinder laufen wir nebenher und versuchen Kontakt aufzunehmen. Durch den Stacheldrahtzaun am Lagerrand lockt mich einmal ein Russe mit Spielzeug an, das er gebastelt hatte. Das ist ein Flieger aus Holz oder ein taumelnder Hampelmann. Dafür will er Essen haben. Mit einem Brot und etwas Quark ausgestattet, gelingt es uns, den Tausch durch den Zaun durchzuführen, ohne dass ein Wachposten es bemerkt.
Kriegsspielzeug ist damals üblich. Im Sandkasten gibt es die größten militärischen Aufmärsche. Seit Herbst 1944 findet der Schulunterricht nur sporadisch in Gasthäusern statt, da die Schulräume für Flüchtlinge genutzt werden. Im Dezember 1944 und im Januar 1945 beherbergen wir in unserer Bahnhofswohnung eine Frau mit sieben Kindern, die völlig ausgefroren aus Ostpreußen auf der Flucht sind und dringend Hilfe brauchen. Nur dauert die Ruhepause nicht lange. Auch wir müssen bald fliehen, was uns zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht bewusst ist. Wenn es Abend wird, müssen die Fenster mit schwarzen Papier-Innenrollläden abgedunkelt werden, damit die Flugzeuge keine Ziele erkennen können. Ein Bahnhof ist ja ein „strategisches Objekt“. Ein beängstigendes Schauspiel bietet sich uns nachts, als Breslau bombardiert wird, was in etwa 40, 50 Kilometer Luftlinie in Form von gewaltigen Explosionen und Feuerblitzen zu erkennen ist.
Nur ein vorübergehender Abschied?
Als eines Tages ein Trupp Soldaten mit Feldküche und militärischer Kampfausrüstung anrückt, ist allen klar, dass wir uns für die Flucht entscheiden müssen. Es werden alle Möglichkeiten durchgespielt, womit und mit wem es zu realisieren ist. Als Kinder haben wir natürlich keine Vorstellung, was es bedeuten würde, mit einigen wenigen Habseligkeiten aufzubrechen und alles zurückzulassen. Wer Pferd und Wagen besitzt, fängt an, seinen Transport zusammenzustellen und mit den notwendigen Dingen zu beladen. Grundsätzlich sind alle überzeugt, dass es nur eine vorübergehende Trennung von Zuhause sein würde und packen daher nur das Notwendigste ein.
Mein Vater als Bahnhofsvorstand entscheidet auf eigene Faust, einen Güterwagen zu requirieren, der auf einem Abstellgleis verfügbar ist. Darin sollen alle Eisenbahnerfamilien des Bahnhofs unterkommen. Natürlich nur Frauen mit Kindern, denn die Männer sind entweder eingezogen oder dringend zur Aufrechterhaltung des Bahnhofsbetriebes notwendig und unabkömmlich. So werden in den leeren Güterwagons Schlafgelegenheiten geschaffen, Strohballen ausgelegt, ein Kanonenofen angeschlossen, Tisch und einige Stühle aus den Bahnhofsbüroräumen herbeigeschafft, eine Kohlenkiste mit Holz und Kohle gefüllt. Es ist ja Winter und der Wagon nicht isoliert. Die Personenzahl steigt von Tag zu Tag, sodass immer neue Provisorien entstehen. Schließlich besteht die „Besatzung“ aus etwa 25 Personen, davon zwölf Erwachsene, der Rest Kinder und Jugendliche.
Es ist völlig ungewiss, wann wir starten werden. Der Februar zeigt sich frühlingshaft und wir Kinder haben großen Spaß am stundenweise Probewohnen. Schließlich fahren wir doch urplötzlich los, da sich die Gelegenheit bietet, an einen turnusmäßigen Personenzug anzuhängen. Wir fahren zunächst Richtung Reichenbach, werden aber wieder umgeleitet, um in Schweidnitz an einen organisierten Flüchtlingszug anzukoppeln. Dieser Zug besteht aus reinen Personenwägen und hat nun unseren Güterwagon als Anhängsel. Jetzt geht es in Richtung Westen. Genaue Informationen gibt es nicht. Es ist allen klar, wie wichtig es ist, der nahen Front zu entgehen. Jeder ist überzeugt, dass es, wenn die Russenfront durchgezogen sein würde, wir alle wieder umkehren und zurück nach Schlesien gelangen würden. Niemand weiß etwas über die alliierten Vereinbarungen von Jalta: Deutschland wird aufgeteilt und Polen wird deutsche Ostgebiete erhalten. Niemand ahnt auch nur im leisesten, welche katastrophalen Auswirkungen der Krieg zur Folge haben wird.
Kurzer Aufenthalt: Prag
Das Leben im Viehwagon muss organisiert werden. Nahrungsmittel sind nur in bescheidenem Umfang vorhanden und sanitäre Möglichkeiten gleich null. Wasser wird bei kurzen Aufenthalten an den Bahnhöfen gefasst. Zum Glück halten sich die Temperaturen im Rahmen, sodass niemand erfriert. Die Nächte sind lang und dunkel, nur spärlich erhellt durch eine Petroleumlampe und Kerzenschein. Durch das monotone Rattern der Zugachse auf den Gleisen fallen die Kinder schließlich in Schlaf, während die Erwachsenen sich sorgen, was wohl der nächste Tag bringen wird. Informationen über den Streckenverlauf, geschweige denn, was in der Welt passiert, gibt es nicht. Solange wir uns auf deutschem Gebiet befinden, ist die Zeitung, die an den Haltepunkten verfügbar ist, die einzige Informationsquelle und Orientierung.
Schließlich landen wir eines Nachts am Prager Hauptbahnhof. Der Aufenthalt dauert nur einige Stunden, die genutzt werden, um Verpflegung zu organisieren. Wir Kinder sind hellwach und nutzen den Aufenthalt zur körperlichen Bewegung, indem wir den Bahnsteig auf und ab rennen. Deutlich in Erinnerung habe ich, dass an den Zugängen zum Bahnsteig Militärposten in voller Montur alle Personen kontrollieren. Speziell Soldaten müssen ihren Militärpass vorzeigen und sich legitimieren. Es könnte ja sein, dass sie sich in unerlaubter Weise von der Truppe entfernt haben. Diese Posten tragen nicht nur einen Stahlhelm, sondern auch eine Plakette vor der Brust, mit der deutlichen Aufschrift „Militärpolizei“, und sie sind bewaffnet. Sie machen einen sehr respekteinflößenden Eindruck auf uns Kinder. Die Abfahrt des Zuges geschieht unverhofft und in der allgemeinen Hektik sind alle froh, wieder bei den Müttern im Viehwagon in Obhut zu sein.
Angriff in Böhmen
Nun wird deutlicher, wohin die Reise gehen soll: weiter nach Westen und vielleicht über die böhmisch-bayerische Grenze. Ich kann mich noch gut an einen warmen und sonnigen Frühlingstag erinnern, an dem unser Zug sich langsam durch ländliche Gegenden Böhmens schlängelt. Zum Glück haben wir eine Leiter dabei, mit deren Hilfe wir ein- und aussteigen können und die wir während der Fahrt als Schutz quer vor die geöffnete Wagon-Schiebetür legen, sodass keiner verloren geht. Wir Kinder lassen unsere Beine zwischen den Leitersprossen in der offenen Tür baumeln und schauen in die vorbeifliegende Landschaft, als plötzlich ein Flugzeuggeräusch zu hören ist und uns wildes Geknatter aus Maschinengewehren erschreckt. Die Mütter reißen uns ins Wageninnere und werfen sich schützend über unsere Körper. Als nach einigen Minuten der Zug zum Stehen kommt, stürzen wir aus den Wagons über die Gleise und suchen Deckung am Bahndamm.
Schließlich versuchen wir, in die angrenzenden Siedlungshäuser zu gelangen, da der Beschuss anhält. Die Einwohner haben jedoch keine Lust, uns hereinzulassen. So suchen wir weiter Schutz im Gelände. Nachdem der Angriff vorbei ist, müssen wir feststellen, dass kurz vor dem Ortsbahnhof Tauss der Zug bewegungslos mit zerschossener Lokomotive gestrandet ist. Tote und Verwundete werden geborgen und notdürftig versorgt. Gott sei Dank ist in unserem Wagon kein Opfer zu beklagen. Am nächsten Tag kann die Fahrt mit neuer Lok fortgesetzt werden. Aus heutiger Sicht kann ich das Verhalten der Tschechen verstehen, die uns Deutsche die Unterkunft verweigerten. Man bedenke nur die Ereignisse, die in der besetzten und okkupierten Tschechoslowakei von den Nationalsozialisten verursacht wurden.
Endstation Bayerbach
Kurz nach Tauss geht es über die Grenze nach Bayern. Über Cham, Schwandorf, Regensburg, Landshut in das verträumte Niederbayern bis ins Rottal. Ab Eggenfelden und Pfarrkirchen bleibt der Flüchtlingszug an jeder Bahnstation zu einem Aufenthalt stehen, um jeweils kleine Flüchtlingskontingente abzusetzen. Zu diesem Zweck stehen Bauern mit ihren Fuhrwerken bereit, um uns aufzunehmen. Dies geschieht jedoch nicht freiwillig, sondern wird durch die jeweiligen Bürgermeister und Ortsgruppenleiter (Vertreter der NSDAP) organisiert. Nach den Stationen Pfarrkirchen, Anzenkirchen und Birnbach hält der Zug in Bayerbach an der Rott. Es ist bereits Nachmittag und das vorgesehene Kontingent für Bayerbach wird von den bereitstehenden organisierten Einheimischen erwartet. Sie haben Pferde- und Ochsengespanne als Fuhrwerke dabei. Das Ausladen und Zuweisen ist gerade im Gange, als Flugzeuglärm und der unmittelbar einsetzende Beschuss unter lautem Geschrei zu einem Chaos führt. Alle stieben auseinander und jeder sucht vor den Kugeln Deckung. Ich erinnere mich, dass ich im öffentlichen Toilettenhäuschen lande. Der ätzende Geruch, der dort herrscht – die Toilette hatte ja keine Wasserspülung – steht mir heute noch in der Nase.
Es muss gut eine Viertelstunde gedauert haben, bis der Beschuss aufhört und die Tiefflieger wieder abdrehen. Das Durcheinander löst sich auf und jeder sucht nach seinen nächsten Angehörigen. Nun wird allen klar, dass Bayerbach die Endstation unserer Flucht bedeutet. Der Zug ist beschädigt, die Lok zerschossen. Alle müssen den Zug verlassen und somit ist der Unterbringungszwang groß. Leider gibt es Verletzte und die besondere Tragik und Traurigkeit liegt in der Tatsache, dass doch ein Todesopfer zu beklagen ist: ein 15-jähriger Bub, Manfred Menzel, wurde tödlich getroffen. Welch schreckliche Tatsache, man stelle sich vor, einer Mutter mit drei Söhnen gelingt es, unversehrt bis nach Bayerbach zu gelangen. Der Ehemann ist an der Front als Soldat im Einsatz und die Familie bangt um sein Leben, das täglich in Gefahr ist. In der Fremde, mittellos, soll der Älteste doch eine Stütze für die Mutter sein. Wir sind alle sehr traurig. Auf der anderen Seite gibt es auch ein kleines Wunder: Während des Beschusses durch die Tiefflieger übersteht ein Baby im Kinderwagen, der allein im allgemeinen Tumult auf dem Bahnsteig zurückgelassen wird, unbeschadet die Situation.
Wir sind die Letzten, die auf ein Fuhrwerk verteilt werden. Das Gepäck besteht aus einem beladenen Leiterwagen, einem Fahrrad und zwei Koffern. Vater hatte uns nicht mehr erlaubt. Sein Argument war, wenn wir gezwungen werden, die Flucht zu Fuß fortzusetzen, dann können wir nicht mehr mitnehmen. Das Pferd hat also keine große Mühe, unseren „Transport“ zu bewältigen. Wir werden durch das uns noch fremde Dörfchen gefahren, bis an das andere Ende. Buchstäblich das letzte Bauernhaus soll unsere neue Heimstatt werden. Es liegt am Hang, die Dorfstraße teilt den Hof in ein Wohnhaus mit Stallung auf der einen Seite und dem Stadl und Schupfen auf der anderen Seite. Der Bürgermeister macht den Hausbesitzern offensichtlich mit entschiedenen Worten klar, dass sie uns Herberge zu geben haben.
Eine neue Unterkunft
Es muss also ein Raum bereitgestellt bzw. erst aufbereitet werden. Aus einem Vorratsraum, in dem alles Mögliche lagert, unter anderem auch Obst, das dort überwintern soll, wird unsere Unterkunft. Zwei Betten gefüllt mit Strohsäcken, ein Schrank, ein Tisch und zwei Stühle sowie das Wichtigste, ein Kanonenofen, wird aufgestellt. Alles unter einer etwas misslichen Stimmung und unter Aufsicht der örtlichen Obrigkeit. Es ist sicher für beide Seiten kein einfaches Unterfangen und gewöhnungsbedürftig, hat doch das Zimmer seinen Zugang durch das Wohnzimmer, der so genannten guten Stube des Hauses, wo die Besitzerin mit Tochter und Schwiegertochter an einem großen Tisch ihre Mahlzeiten einnehmen. Angrenzend geht es in die Küche und Speisekammer. Die Schlafräume des Hauses liegen im ersten Stock. Es ist für alle peinlich und störend, wenn immer durch die gute Stube gelaufen werden muss. Die Toilette liegt auf der anderen Straßenseite. Alles ist ziemlich unbequem. Unser Zimmer hat ein sehr großes Fenster, das in den Gemüsegarten schaut, und da das Gelände leicht angeböscht ist, kann man bequem ein- und aussteigen, was sich später als praktisch erweist.
So versucht man sich einzurichten und sich gegenseitig zu tolerieren – allmählich wird der menschliche Kontakt intensiver. Die anfänglichen Animositäten weichen einem zunehmenden gegenseitigen Verständnis. In den ersten Wochen sind wir gezwungen, ins Wirtshaus zum Hölzl zu gehen, um täglich eine warme Mahlzeit zu erhalten. Hier kann der Hunger gegen Abgabe von Lebensmittelmarken gestillt werden. Der tägliche Fußmarsch zum Hölzlwirt führt auch an einem Häuschen vorbei (zum Schmid), auf dessen Hausbank meist ein älterer Mann sitzt, der leider nur mit zwei Krücken gehen kann und deshalb das Platzerl vorm Haus bevorzugt. Was dann auch unweigerlich der Konversation dient, wobei das Bairische, das er zweifellos sprach, zunächst hinderlich und schwierig für uns ist. Aber das soll sich bald ändern, denn aus diesem Haus beobachtet uns – vielmehr meine Schwester Edith – ein junger rassiger Mann, der sich als Sohn des alten Herren bekannt macht. Er hat ein Auge auf meine Schwester Edith geworfen. Daraus entspinnt sich mit der Zeit eine nähere Bekanntschaft, ja Freundschaft, was uns allen zu Gute kommt und das Fremdsein erleichtert. Der junge Mann heißt Ludwig, auf gut Bairisch Wigg.
Die Akklimatisierung mit Land und Leuten und den Lebensumständen macht Fortschritte. Man erobert die Umgebung, versucht, seinen Haushalt unter den beschränkten Bedingungen der Monate März und April 1945 zu komplettieren. Bei den sonntäglichen Touren, sprich Ortsbesichtigungen oder Orientierungsausflügen, werden natürlich alle Mitflüchtlinge aus dem Wagon aufgesucht, die in den umliegenden Gemeinden verstreut Unterschlupf gefunden haben. So waren Fußmärsche nach Birnbach, Karpfham, Griesbach, Weng, Kößlarn und Asbach keine Seltenheit. Wobei wir immer auf der Hut bleiben müssen wegen der Tieffliegergefahr. Neben den großen Fliegerverbänden, die in großen Staffeln am taghellen Himmel ihre Ziele ansteuern, kommt es durchaus vor, dass plötzlich einzelne Flugzeuge Jagd auf Zivilisten oder arbeitenden Menschen auf den Feldern machen. Die deutsche Abwehr ist so geschwächt, dass die alliierten Flugzeuge keinerlei Gegenwehr befürchten müssen und sich solche dreisten Angriffe auf die Zivilbevölkerung leisten können.
Der Krieg ist vorbei
Trotz aller Propagandameldungen über die „glänzenden Erfolge“ der Wehrmacht in ihrem Abwehrkampf wird allen klar: Es geht zu Ende mit dem Krieg. Als der 8. Mai näher rückt, der Tag der Kapitulation, sind wir erleichtert, aber voller Angst, wie es wohl unter der Besatzungsmacht weitergehen wird. Es rückt der Amerikaner mit schweren Waffen und Panzer in jedes Dorf. Gott sei Dank wird kein Widerstand geleistet. Weiße Fahnen werden gehisst – es sind natürlich Leintücher. Hie und da durchkämmen vereinzelte Einheiten die Häuser auf der Suche nach versteckten Soldaten oder Parteimitgliedern.
Unser Bauernhaus wird auch untersucht. Eine ganze Kolonne Panzer stoppt und die Soldaten springen von ihren Fahrzeugen herunter, dringen mit Gewehren im Anschlag ins Haus und durchkämmen es. Auch unser Zimmerchen wird in Augenschein genommen. Meine Mutter stellt sich resolut in den Weg und macht den Soldaten klar, dass wir Flüchtlinge sind und nichts mehr besitzen. Trotzdem durchsucht einer unseren Schrank und entdeckt unter den wenigen Dokumenten und Fotografien, die meine Mutter in der Eile in Faulbrück eingepackt hat, einige Bücher. Zum Glück sind es keine NS-Pamphlete, sondern zwei Wörterbücher Esperanto/Deutsch und Deutsch/Esperanto. Mein Vater war aus dem Ersten Weltkrieg als 20-Jähriger heil heimgekehrt und von der friedensstiftenden Idee einer Völkerverständigung mittels einer internationalen neutralen Sprache so begeistert, dass er sie schnell erlernt hatte und als aktiver Esperantist eine umfangreiche Korrespondenz betrieb.
Der Erfinder und Schöpfer dieser Sprache, der polnisch-jüdische Augenarzt Dr. Ludwik Zamenhof hatte in Bialystok im deutsch-russischen polnischen Grenzgebiet erlebt, wie wichtig eine Verständigung zwischen den Völkern mittels einer neutralen Brückensprache wäre. Die Nationalsozialisten bekämpften von Anfang an diese Sprache. Hitler verbot daher jede Aktivität und Organisation des deutschen Esperantobundes ab 1933. Der amerikanische Offizier erkennt glücklicherweise sofort den friedensstiftenden Charakter dieser Bücher und beendet die Durchsuchung mit einem freundschaftlichen „Shake Hands.“ Alle im Hause sind erleichtert, als daraufhin die Amis wieder auf ihre Panzer steigen und weiterziehen. Unsere Herbergsgeber sind uns gegenüber ab diesem Zeitpunkt zugänglicher und wohlwollender, was für das weitere Zusammenleben von großer Bedeutung ist.
Die Amis in Bayerbach
Die Amerikaner nehmen im Ort Quartier, das heißt, die Soldaten werden im Hölzlhof einquartiert. Sie beziehen das Hingerlhaus und das Haus von Wimbecks. Es herrscht reger Betrieb im Dorf. Ein großer Fahrzeugpark sorgt für Bewegung auf staubigen Straßen. Die Truppe muss versorgt werden und wir Kinder haben keine Scheu – auch nicht vor schwarzen GIs, denn ab und zu fällt Schokolade oder ein Keks für uns ab. Über die Monate Mai bis September dauert die Besatzung und in dieser Zeit gibt es immer engen Kontakt, um nicht zu sagen eine gewisse Verbrüderung mit der Besatzung. Die Jugendlichen verfolgen natürlich genau, was die Soldaten in ihrer Freizeit machen. Am beeindruckendsten ist, wenn sie mitten auf der Dorfstraße Base-Ball spielen, sich die Bälle mit ihren großen Lederhandschuhen zuwerfen und über 50 Meter wieder auffangen.
So eine Truppe braucht nicht nur ausreichend Lebensmittel, sondern produziert auch jede Menge Abfall, der einmal pro Woche entsorgt wird. Hierzu dient ein beliebiger Abhang am Dorfrand, an dem dann alles einfach runtergekippt wird. Um die Entsorgung zu beschleunigen, gießt man Benzin darüber und alles sollte verbrennen. Nein, dafür sorgen wir Kinder schon, dass das nicht geschieht. Also löschen wir schleunigst das Feuer und beginnen im Müll zu wühlen, um nach verwertbaren Sachen und Essensresten zu suchen. Einmal entdecke ich ein vollkommen intaktes, aber verschmutztes Militärhemd. Damit hat meine Mutter ein Jahr lang geputzt, so eine gute Qualität war das. Natürlich finden sich unter dem Müll auch Dinge, die für uns Kinder kontraproduktiv sind, wie zum Beispiel Zigaretten oder unbenutzte Kondome.
Wenn ich heute im Fernsehen Bilder aus den Entwicklungsländern sehe, auf denen die Kinder im Müll waten und nach Verwertbarem suchend herumstochern, erinnere ich mich wieder, das ebenfalls erlebt zu haben. Die Schule ist geschlossen, die Lehrer, die im dritten Reich Beamtenstatus hatten und infolgedessen auch Mitglied der NSDAP waren, werden interniert oder entlassen, sodass so schnell kein Ersatz verfügbar ist. Sie mussten erst entnazifiziert werden, was sich über Jahre hinzieht. In der entfallenen Schulzeit haben wir natürlich frei tanzen. Gelegentlich bemühen sich die Eltern, den ausfallenden Unterricht aus Eigeninitiative und Sorge um die geistige Entwicklung der Kinder selbst in die Hand zu nehmen. Die Freiheit hat natürlich Grenzen, denn alles ist darauf ausgerichtet, das tägliche Leben zu meistern. Wir Kinder, jeder nach Alter, geistiger und körperlicher Reife müssen gewisse Aufgaben erfüllen. Brennmaterial aus dem Wald beschaffen, zum Beispiel. Die Waldbesitzer sind froh, wenn das dürre Reisig aus dem Unterholz entfernt wird. Tannenzapfen sind ein vorzügliches Brennmaterial. In der Erntezeit werden die Felder, nachdem sie abgeerntet sind, von uns Kindern noch nach restlichen Ähren und Kartoffeln abgegrast.
Wie das Leben von Manfred und seiner Familie weitergeht, liest Du im zweiten Teil. An dieser Stelle möchte ich mich ganz herzlich bei Martina Schmid bedanken – sie ist Manfreds Nichte und hat ihren Onkel ermutigt, seine beeindruckende Geschichte aufzuschreiben und für uns alle zugänglich zu machen. Übrigens: Auf dem Titelbild des ersten Teils ist Manfred in der Mitte zu sehen. Links sein Bruder Erwin, rechts seine Schwester Edith.
Als gebürtige Bayerbacherin ist mir so manches aus der Geschichte bekannt, auch einige Personen. Ich finde es hochinteressant, mehr über unsere Geschichte zu erfahren, gerade vor Ort und am schönsten durch persönliche Eindrücke. Auch denke ich, dass gerade Kinder ihre Erlebnisse noch weitgehend unverstellt und unmittelbar erfahren. Vielen Dank für diese Geschichte – ich freue mich schon sehr auf die Fortsetzung.