Helga Moser: „Erwachsene können von Kindern am meisten lernen“
Helga Moser ist Erzieherin, Entspannungspädagogin, Moderatorin für „Kinder philosophieren„, sie gestaltet Vorlesenachmittage, leitet einen Frauenkreis, gibt Elternkurse und ist Dozentin für pädagogische Fortbildungen – und sie ist meine Mama. Welch ein Glück, so eine kinderliebe Mama zu haben – für mich und ihr Enkelkind und alle Kinder, mit denen sie zu tun hat. Und wie portraitiert man die eigene Mama? Indem man ihr das Wort überlässt – in einem Gespräch über Kinder, Kindheiten und das gute Gefühl, verstanden zu werden…
Wie hast Du Deine Kindheit in Erinnerung?
Meine frühe Kindheit bis zum Schuleintritt habe ich als recht genussfreudig und sinnenfroh in Erinnerung. Ich bin in keinen Kindergarten gegangen, das war zu meiner Zeit auf dem Land noch nicht üblich. Im Nachhinein betrachtet war das eine große Freiheit. Es gab keine Zwänge, was das Aufstehen und Zubettgehen betraf und die Tagesgestaltung war sehr, sehr frei.
Du hast nicht zu einer bestimmten Zeit ins Bett gemusst?
Ich denke, wenn ein Kind völlig frei ist, ist das weniger problematisch. Ich bin aufgestanden, wenn ich munter war und ins Bett gegangen, wenn ich müde war. Und: Es wurde wenig weggefahren. Meine Mutter war Hausfrau, meine Oma hat im Haus gelebt, es war immer jemand da. So musste ich nirgends hin. Heute sind Kinder ganz viel im Auto. Ich hab mich gefreut, wenn ich mal wohin durfte, wobei mir beim Autofahren immer schlecht geworden ist. Der Tag lag einfach vor mir. Das ist schon toll, wenn ein Kind einfach so in seinen Tag gehen kann. Es ist nichts geplant, es wird gespielt, bis man fertig ist. Niemand unterbricht. Ich hatte kein Kinderzimmer, ich habe in der Küche gespielt. Da wurde es höchstens mal zum Tischabräumen, wenn es Essen gab. Es war immer jemand da, ich hab mich nie allein gefühlt, aber ich hab allein gespielt. Ich konnte mich vertiefen, vor allem in mein leidenschaftliches Puppenspiel, mit Selbstgesprächen und allem, was dazu gehört. Und ich war ganz viel draußen, hab stundenlang Sand gespielt, geschaukelt, Blumen gepflückt.
„Ich war satt mit einem kleinen Bedauern“
Heute können das viele Kinder gar nicht mehr…
Weil der Rahmen nicht gegeben ist. Und dann wird oft seitens der Eltern geklagt, die Kinder könnten nicht mehr gescheit spielen. Das weiß man ja selbst: Wenn man sich in irgendwas hineinbegibt, braucht das schon einen Vorlauf, bis man drin ist im Tun. Und dann sieht man erst, wo es hingeht. Daran kann ich mich noch sehr gut erinnern, an dieses volle Befriedigungsgefühl, wenn ich fertiggespielt hatte. Ich war satt mit einem kleinen Bedauern. Das ist etwas, was man beim Spielen gut lernen kann: dass etwas ein Ende haben muss, damit etwas Neues beginnen kann.
Welche Rolle haben andere Kinder gespielt? Du hast zwar einen Bruder, aber der ist zwölf Jahre älter.
Das war natürlich nicht mein Spielpartner, eher eine Erzieherpersönlichkeit. Ich habe sehr zu ihm aufgeschaut, habe viel von ihm gelernt – und er hat mich den Büchern nahe gebracht. Das ist für mich heute noch was ganz Wichtiges. Aus unserer kleinen Siedlung waren fünf Kinder in einer Klasse, das muss man sich mal heute vorstellen. In der Grundschule durfte ich nicht auf die Straße gehen, um mit den anderen zu spielen. Obwohl das völlig ungefährlich gewesen wäre. Erst als ich fast in der Pubertät war, da hätte ich mich nicht mehr einengen lassen. Dann haben wir oft Federball gespielt.
Vorher nicht? Was war mit Räuber und Gendarm?
Das haben wir schon gespielt, meistens im Wald. Aber da war meistens mein Bruder dabei. Und ich durfte zum Bahndamm, der am Ende unserer großen Wiese lag. Da haben wir Lager gebaut. Und zu mir durfte jeder kommen, auch jeden Tag. Und da kamen viele! Wir hatten den größten Garten, ich hatte viel Spielzeug zu der damaligen Zeit. Meine Mutter hat meinen Besuch bewirtet, das war auch schön. Freilich hätte ich auch gern mal andere Kinder besucht.
„In unserer Gesellschaft bestimmt das Arbeitsleben die Familien“
Deine Kindheit ist länger als ein halbes Jahrhundert her, damals war noch nicht viel Verkehr auf der Straße. Als ich Kind war, war die Straße eine Spielstraße. Und jetzt ist sie das nicht mehr. Sagt das was über die Kindheit aus – wie hat sie sich gewandelt?
In meiner Kindheit gab es noch Kinder, die in der Landwirtschaft arbeiten mussten – als eingeplante Arbeitskräfte. Einerseits waren sie wichtig, was auch toll ist. Kinder wollen gebraucht werden. Andererseits wurden sie ausgenutzt und waren nicht frei. Und jetzt ist das auch wieder so, wenn auch anders: Die Freiheit der Kinder ist eingeschränkt. Aus vielen Gesprächen mit Kindern weiß ich, dass sie immer dasselbe wollen: Die Freiheit zu haben, das zu tun, was sie antreibt, zu spielen, wonach der Sinn steht. Kinder wollen nicht so stark gelenkt werden und sich doch in Obhut wissen.
Früher war das gewährleistet. Viele Leute haben daheim gearbeitet, man hat in größeren Familienverbänden zusammengelebt. Und es gab feste Zeiten zum gemeinsamen Essen. Es wurde in Anwesenheit der Kinder gekocht. Das ist auch eine sinnliche Erfahrung. Man durfte helfen, man hat’s gerochen, man hat sich gefreut und Appetit bekommen. All das findet heute in der Form kaum noch statt. Kinder bekommen daheim oft nur was Schnelles serviert oder essen im Kindergarten oder in der Schule. Auf die Bedürfnisse der Kinder wird keine Rücksicht genommen. In unserer Gesellschaft bestimmt das Arbeitsleben die Familien. Die meisten ordnen sich dem unter.
Früher war es sicher nicht der Kinder wegen anders. Kinder waren noch nie ausschlaggebend, wie Familien leben. Kinder genießen gerne ihre Freiheit, wollen aber auch zur Gemeinschaft beitragen und erledigen kleine Aufgaben gern. Sie freuen sich aber darüber, wenn jemand im Hintergrund ist, der mal eine Frage beantwortet, über den Kopf streichelt, ein Butterbrot parat hat. Diese Rückversicherungen sind wunderbar, ebenso Zugang zur Natur, das Leben mit Tieren. Kindern tut es gut, selbstbestimmt zu sein: Zu essen, was ihnen schmeckt, schlafen, wenn sie müde sind. Es tut ihnen gut, nicht schon so früh mit Strukturen leben müssen. Das Aufstehen-Müssen, das Unterordnen in Gruppen, das Fahren zu Terminen – das mögen die wenigsten Kinder.
Heute wird alles schnell pathologisiert, wenn Kinder nicht so ticken, wie es sich die Erwachsenen wünschen. Die Erwartungen sind gestiegen, wodurch Kinder schnell nicht „richtig“ sind, wenn sie denen nicht entsprechen.
Das ist wahr. Kinder wünschen sich eigentlich, dass die Erwachsenen im Hintergrund sind. Sie mögen es nicht, wenn immer jemand danebensteht und das Tun beobachtet und kontrolliert. Es ist nie gut, wenn zu stark geschaut wird, egal, ob das Kind isst oder spielt.
Das mag ja niemand…
Das mag niemand!
„Ein tiefes Verständnis, das bis heute geblieben ist“
Wann hast Du bemerkt, dass Kinder Dein Thema sind? Warst Du gar selbst noch ein Kind?
Ja. Wenn Babys oder Kleinkinder zu Besuch waren, habe ich mich regelrecht darauf gestürzt. Ich wollte gern noch ein Geschwisterl haben – aber da ich selbst so eine Nachzüglerin war, war das kein Thema mehr. Das Bemuttern und auch den pflegerischen Aspekt hab ich ganz stark im Puppenspiel ausgelebt. Das Fürsorgen, aber auch das Bestimmen, die Macht.
Sehr interessant…
(lacht) Schule spielen viele Kinder – da spielt Macht eine große Rolle. Drum will auch jeder der Lehrer sein. Ich habe als Kind stark erlebt, wie es ist, ohnmächtig zu sein. Mir ging es aber nicht darum, groß sein zu wollen. Kinder wollen nur groß sein, um der Ohnmacht entfliehen zu können. Bei mir entstand ein Mitgefühl, ein tiefes Verständnis, das bis heute geblieben ist. Antiautoritäre Erziehung ist aber in meinen Augen nicht der Weg. Ich habe mich stark damit auseinander gesetzt, das war in meiner Ausbildungszeit ja ganz in. Ich finde aber, dass dabei den Kindern zu viel zugemutet wird.
Früher war der antiautoritäre Erziehungsstil in, heute spricht man nicht mehr von Erziehung, sondern von Beziehung, der bedürfnisorientierte Ansatz steht im Vordergrund.
Zu meiner Zeit hieß es antiautoritär, laissez-faire, demokratisch oder autoritär. Der autoritäre Erziehungsstil war lang vorherrschend und ist es bis heute. Und zwar aus dem Grund, weil Beziehungen einfach schwierig sind. Das bedeutet tägliche Arbeit. Das funktioniert nur in der Theorie mit bestimmten Regeln. Im autoritären Stil wird eindeutig von den Erwachsenen die Macht ausgeübt.
Und es wird zwar von Augenhöhe geredet, aber nur in die Knie gegangen, um den Kindern den Zeigefinger richtig unter die Nase zu reiben…
Das ist ein passendes Bild. Viele Eltern sind in einem Zwiespalt. Sie spüren, dass der alte Stil nicht mehr sein kann, sie wurden selbst oft nicht mehr so krass erzogen – und dann lassen sie es einfach laufen. Sie wollen beste Freunde sein. Dann wird es ihnen teils selbst zu viel oder sie und die Kinder ecken an. Dann schämen sie sich, weil sie ja nicht auffallen wollen – und dann verfällt der Stil automatisch ins Autoritäre. Das ist für die Kinder absolut anstrengend. Dann wird geschrien, dann gibt’s aus dem Affekt eine Watsch’n…
„Kinder werden anders behandelt als Erwachsene“
Das passiert noch?
Oh ja. Ich hab das in der Öffentlichkeit schon öfter beobachtet. Und in meiner Arbeit als Erzieherin wurde mir in vielen Elterngesprächen mitgeteilt, dass schon mal die Hand „ausrutscht“. Wobei es eben nicht um einen Ausrutscher geht, sondern um Regelmäßigkeiten und die Auffassung, ein „Klaps“ sei nicht schlimm.
Das geht in die Richtung „hat uns ja auch nicht geschadet“. Aber als Erwachsene haut man sich ja auch nicht, wenn man einen Konflikt hat.
Das ist ein wichtiger Punkt: Kinder werden anders behandelt als Erwachsene. Nicht nur, weil sie klein sind, vor allem, weil sie als nicht fertige Menschen betrachtet werden. Sie müssen was lernen, damit sie im Leben bestehen können.
Ist das die vordergründige Meinung – oder triggern Kinder ihre Eltern einfach brutal? Wer halbwegs sensibel ist, spürt, dass Kinder unglaublich schlau sind und genau durchschauen, wo die wunden Punkte sind?
Ja, das läuft teils bewusst und teils unbewusst ab.
Kinder reagieren ehrlich auf äußere Einflüsse und verarbeiten diese direkt: sie schreien, lachen lauthals, kugeln sich am Boden, schneiden Grimassen… ich stelle mir immer vor, wenn das Erwachsene auch noch machen würden.
…dann wären wir viel gesünder.
Regen uns Kinder also manchmal auch auf, weil wir insgeheim neidisch sind?
Dieser Gedanke gefällt mir ganz gut. Könnte ich mir vorstellen. Neid ist was, was man sich als Erwachsener dem eigenen Kind gegenüber gar nicht erlauben will. Man will ja alles, das Beste für sein Kind.
„Es ist wichtig, sich selbst zu hinterfragen“
Eltern sind ja auch stolz, wenn ein Kind die gesellschaftlichen Anforderungen erfüllt…
Das sind die großen Ängste der Eltern: dass das Kind später mal nicht bestehen kann. Das ist die Urangst in uns, dass wir aus der Gesellschaft fallen. Sehr viel früher war das gefährlich. Ausgeschlossen werden ist immer beängstigend. Das möchte man dem Kind ersparen. Überhaupt möchte man dem Kind sehr viel ersparen. Vor allem die eigenen schlechten Erfahrungen. Das geht aber nicht und es ist wichtig, das einzusehen und das Kind eigene Erfahrungen machen zu lassen.
Was auch wichtig ist: Sich vor Augen zu halten, dass das Kind eine Zukunft hat, die wir nicht mehr kennen. Es wird zu einer anderen Zeit leben. Darum können wir dem Kind nicht mitgeben, was es später brauchen wird. Also ist es notwendig, sich auf grundlegende Dinge zu besinnen, auf das, was Menschen schon immer gebraucht haben: Kreativ sein. Wie kann ich mit neuen Situationen umgehen? Wie kann ich mit wenig leben? Das wird immer wichtiger und war die längste Zeit der Menschheit wichtig. Wie kann ich mich selbst regulieren? Wie kann ich schlechte Laune aushalten? Generell: Wie gehe ich mit Gefühlen um? Wie kann ich sie so ausleben, dass andere nicht zu sehr verletzt werden? Ganz wesentlich ist, wie ich mit meiner Wut umgehe. Und auch, erkennen zu wollen, wo die Wut herkommt. Heute ist es wichtig, dass man sich als Mensch in Bezug auf Erziehung selbst hinterfragt. Wird das nicht getan, werden wir immer wieder in die alten Muster geworfen. Wer autoritär ist, braucht sich selbst nicht in Frage stellen, braucht sich nicht um seine Gefühle kümmern. Jeder Mensch kommt mit seiner eigenen Kindheit in Berührung, wenn er selbst Kinder hat. Wer das unterdrückt, ist seinen Gefühlen ziemlich ausgeliefert.
Erzähl mal weiter aus Deinem Leben. Du hast ja eine Ausbildung zur Erzieherin gemacht…
Ja – und das war für mich eine wunderbare Erfahrung. Da wurde ich plötzlich mit Psychologie konfrontiert. Für mich hat sich eine neue Welt aufgetan, die ich sehr genossen habe. Über eigene Gefühle sprechen, über Erfahrungen – offen sprechen in der Gruppe und schauen, wo das hinführt. Das waren philosophische Gespräche, es ging um keine „Wahrheit“, nicht ums Rechthaben, sondern ums gemeinsame Denken. Der soziale Aspekt war auch sehr bereichernd, die Frage danach, wie man miteinander umgehen möchte. Da wurde mir klar, dass ich auf dem richtigen Weg war.
„Das hat mich idealistisch inspiriert“
Die 70er waren ja sehr frei im Denken. Dann kam mit den 80ern der Dämpfer. Die 80er waren ja wieder sehr konservativ – diese Bahn hast ja auch Du zumindest nach außen hin eingeschlagen.
Ich kann mich erinnern, wie wir drei als Familie mit dem Hund einen Spaziergang gemacht haben. Da kam uns eine ältere, sehr konservative Frau strahlend entgegen und sagte: „Die Bilderbuchfamilie!“ Darüber bin ich innerlich so erschrocken, dass ich dachte: Stopp! Jetzt musst mal schauen, was da schief läuft. Aber es stimmt – ich habe schon sehr angepasst gelebt.
Hat’s Dich da nach Deiner positiven Ausbildung nochmal eingeholt? In meiner Kindheit hast Du ja auch nicht in Deinem Beruf gearbeitet…
Ja, das ist wahr. Da haben mich meine Ängste eingeholt. Ich wollte immer dazugehören. Ich hab meine Familie nicht als eine solche erlebt, die dazugehört. Das war schwierig für mich. Es waren zwar immer viele Leute aus Familie und Nachbarschaft im Haus – aber ins Dorfleben waren wir nicht integriert. Später als Mama wollte ich, dass Du integriert bist. Also hab ich mich kirchlich engagiert. Aber nicht nur aus dem Aspekt -ich hab mich stark eingelesen in Glaubensthemen. Ich wollte das wirklich gern. Ich habe nach Spiritualität gesucht, die mir Sicherheit und Halt geben kann. Im Grunde habe ich von einer herrlichen Kommune mit christlichem Hintergrund geträumt.
Aber da hast Du Kommune mit Kommunion verwechselt… (beide lachen)
Ich kann mich an ein Buch über das Urchristentum erinnern. Das hat mich idealistisch inspiriert. Bis ich schnell festgestellt habe, dass der Katholizismus rein gar nichts damit zu tun hat. Als Du in die Pubertät gekommen bist und diese Religion hinterfragt und abgelehnt hast, hab ich das als Chance gesehen, mich ebenfalls von dieser Angelegenheit zu entfernen. Ausgetreten bin ich erst später, weil ich ja als Erzieherin hierzulande keine Chance mehr gehabt hätte. Meine Scheidung hat dem Ganzen den letzten Schub gegeben. Wie man als Geschiedener in der katholischen Kirche behandelt wird, geht einfach gar nicht.
„Die Energie, die von Kindern kommt, ist großartig“
Du wolltest eigentlich ein ganzes Haus voller Kinder und hast dann doch „nur“ mich bekommen…
Ja, ich wollte gern viele Kinder. Ich war ja schon als Kind so gern mit Kindern zusammen. Das Bedürfnis, mit Kindern zusammen zu sein, hat sich bis heute gehalten. Die Energie, die von Kindern kommt, ist großartig. Die Offenheit, das Zeigen der Gefühle, die Direktheit. Dazu die Kinderwelt, das tiefe Wissen übers Dasein. Kinder sind unverstellt, bis sie etwa fünf, sechs Jahre alt sind. Ich hab gespürt, dass Erwachsene von Kindern am meisten lernen können.
Darum wolltest Du Dich gleich mit einem Haufen solcher kleiner Leute umgeben…
Ja – so gesehen war das egoistisch.
Das glaub ich gar nicht. Ich glaube schon, dass das Familiäre schön gewesen wäre, oder?
Im Nachhinein wär’s das nicht gewesen. Es war schon in Ordnung, so wie es gekommen ist. Das konnte ich lange nicht verstehen, das war lange schwer für mich, diese Vorstellung aufzugeben. Heute weiß ich, dass ich nicht der Mensch bin, der viele Kinder haben muss. Dazu ist mir das berufliche Wirken zu wichtig. Wäre es eine freie Entscheidung gewesen, hätte ich meiner Idealvorstellung selbst widersprechen müssen. Aber ich konnte eben keine Kinder mehr bekommen. In den ersten Jahren nach Deiner Geburt wollte ich absolut nichts mit meinem Beruf zu tun haben. Diese Möglichkeit habe ich fest verschlossen und verknotet. Dadurch kam ich in eine Depression. Als ich den Schritt doch gewagt habe und wieder Erzieherin in einem Kindergarten wurde, war alles wieder gut.
Du warst ja wirklich lang draußen, über zwölf Jahre.
Ja. Was ich schon gemacht habe in der nicht-beruflichen Zeit: Ich habe laufend Fortbildungen besucht. Die Themen haben mich interessiert und ich dachte mir, das für mich oder Dich zu tun. Dadurch habe ich gemerkt, dass sich was in der Kindergartenwelt verändert. Dass es den situationsorientierten Ansatz gibt, zum Beispiel. Diese Veränderung empfand ich als sehr positiv.
„Kinder zeigen die Störungen der Eltern auf“
Was ist denn der situationsorientierte Ansatz?
Ich interpretiere das so: Als Erziehender gehe ich auf die jeweilige Situation ein und ziehe nicht meinen sturen Plan durch. Ich schaue, was die Situation des einzelnen Kindes verlangt. Wo braucht es Unterstützung und Begleitung? Da dachte ich mir: Endlich sind wir mal beim Kind! Das war die längste Zeit nicht so – und leider habe ich erlebt, dass es auch heute oft nur in der Theorie stattfindet.
Auch in Familien läuft es nicht immer situationsorientiert. Da haben Eltern auch ihren Plan, keine Zeit, keine Lust – und das Kind muss mitmachen…
Die Frage, die man sich immer wieder stellen muss, ist: Was möchte ich gern meinem Kind mitgeben? Wir können nicht wissen, was unser Kind später brauchen wird. Es geht um das, was wir immer brauchen werden. Das ist Kreativität, aber auch Resilienz – wie kann ich auch unangenehme Zeiten gut aushalten? Aushalten und zugleich für Veränderung sorgen. Was kann ich als Einzelner tun, damit die Gesellschaft einen guten Weg geht? Das lernen Kinder in der Familie, indem sie verschiedenen Interessen nachgehen können. Ich bin nicht dafür, dass die Eltern ihre Wünsche völlig zurückstellen. Nur sollen Erwachsene lernen, ihre Wünsche klar zu benennen.
Da sehe ich ein großes Problem – viele Menschen kennen ihre wahren Bedürfnisse gar nicht. Kinder spüren das und werden in der Folge „auffällig“…
Ja – und sie leben unbewusst ganz viel für die Eltern aus. Sie werden zu Aufzeigern. Sie zeigen die Störungen der Eltern auf. Sie stören ein System, das so nicht in Ordnung ist. Indem sie stören, bringen sie Bewegung hinein, was ja nie verkehrt ist. Da das unbewusst abläuft, ist einem Kind nicht unbedingt klar, welche Konsequenzen daraus entstehen. Leider fällt das Augenmerk oft aufs Kind – die Erwachsenen schauen weg von sich selbst oder haben ohnehin noch nie richtig hingeschaut. Das ist ein gesellschaftliches Thema.
„…sich selbst wieder kindlich fühlen“
Was die Gesellschaft angeht, habe ich einerseits den Eindruck, sie wird viel bewusster – andererseits gewinnen starke konservative Strömungen an Kraft. Ist das die Angst, tatsächlich so frei und froh zu leben, wie es in einer materiell so satten Gesellschaft wie der unseren möglich wäre?
Frei und froh – das ist schön. Ich höre von Eltern und Erzieherpersonal ganz häufig: Das geht nicht! Wenn ich frei und froh lebe, kann ich in unserer Leistungsgesellschaft nicht leben! Da muss ich mich anpassen, Geld verdienen, darf ich der Gesellschaft nicht auf der Tasche liegen…
Als ob das immer gleich die Konsequenz daraus wäre! Anstatt den Kindern zu ermöglichen, neue Wege zu erschließen…
Das ist die große Urangst, die nicht hinterfragt wird: Wenn ich mich nicht anpasse, verhungere ich und werde von wilden Tieren gefressen – ganz krass gesagt.
Ich hätte gehofft, wir wären schon mal mutiger gewesen…
Es waren immer welche mutiger. Allerdings dauert es ein wenig, bis das in die Erziehung fließt. Das sind langsame Prozesse, die leicht anfällig sind. Auch für Rückfälle.
Was siehst Du heute als Deine Aufgabe in Bezug auf Kinder an? Du bist nicht mehr im Kindergarten tätig…
Wenn ich mit Eltern oder Menschen, die mit Kindern zu tun haben, arbeite, sehe ich meine Aufgabe darin, ihnen Möglichkeiten zu geben, sich selbst wieder kindlich zu fühlen. Es geht um einen Bezug zu seinem eigenen Kind. Dann tauchen Gefühle auf, dann bekomme ich für mich selbst wieder ein Stück Verständnis. Wenn ich mich selbst besser verstehe, werde ich zu mir selbst ein wenig milder. Das ist das Wichtigste. Dann kann ich auch zu meinem Kind milder werden. Mild heißt nicht, dass das Kind alles darf. Wenn ich zu mir selbst mild bin, achte ich auf meine eigenen Grenzen – damit spür mein Kind automatisch, wo die seinen sind. Man hört ja oft: Kinder brauchen Grenzen. Das ist falsch formuliert – es geht eigentlich um die eigenen Grenzen. Und wo die eigenen Grenzen liegen – das sollte jeder Mensch herausfinden. Grenzen sind nicht starr, das ist auch schön.
Das Interview mit meiner Mama Helga Moser wurde im ROTTALER GSICHTER MAGAZIN, Ausgabe Winter 2019, veröffentlicht.