Kerstin Rackerseder: Kreative Auszeiten mit kerafein

Sachte taucht Kerstin Rackerseder die Spitzfeder in das kleine Tintenfass, führt das interessante Schreibgerät zum Papier, setzt an und beginnt, langsam tintenblaue Buchstaben zu schreiben. Allein dieser Prozess verrät, dass dahinter viel mehr steckt, als bloßes Schreiben. Der Duft des Papiers, der Tinte, Kerstins konzentrierte Mine, verraten: Das ist Kunst, das ist etwas, das Übung und Ausdauer verlangt, etwas, das einen vielleicht auch in den Bann ziehen kann, anspornt – und gleichzeitig entspannt.

Kerstin lächelt und nickt. Genau das beobachtet sie regelmäßig in ihren Kursen. Unter dem Namen kerafein bietet sie verschiedene kreative Auszeiten an – eigentlich in südostbayerischen Volkshochschulen und mit besonderem Ambiente in den VHS-Räumen im Rathaus Johanniskirchen, aktuell online. Beides läuft bestens, seit sie damit begonnen hat. Einfach zu schön sehen die geschwungenen, geschrieben-gemalten Sinnsprüche, Glückwünsche, Namen aus, die mit floralen Details oder anderen Ausschmückungen zu einem Bild werden. „Manche haben eine Hemmschwelle, wenn sie bei mir ankommen und meinen, sie können das nicht. Das Problem ist oft der Anspruch, dass etwas sofort schön sein muss,“ sagt Kerstin und zieht wissend die Augenbrauen hoch.

Yoga für den Kopf

Dabei ist sie der Überzeugung, dass es weder um „Können“ noch um „Schönheit“ gehen soll, wenn jemand bei ihren Kursen teilnimmt. Freilich ist vieles Handwerk, aber eben auch Übung. Und wer zu verkopft an ein Thema herangeht, der blockiert sich selbst. Kerstin kennt das. Sie selbst hat bis heute keine ruhige Hand, wenn sie innerlich aufgewühlt ist oder der Anspruch an ihr Schaffen zu hoch ist. Besser ist es da, den Blickwinkel zu ändern: „Das ist im Grunde Yoga für den Kopf. Der Monkey Mind kann sich ausschalten, wenn Du in den Prozess kommst und schwupps sind ein paar Stunden vorbei.“

Das ist der tiefere Sinn von Kerstins kreativen Auszeiten: die Schaffensphase genießen, egal, was draus wird. Den ergebnisorientierten Leistungsanspruch, der viele von uns im Leben verfolgt, mal ausblenden. Ganz kindlich das eigene Tun genießen. Kerstin legt die Spitzfeder weg, zeigt die Fülle an Stiften und Pinseln, die sie in ihrem heimischen „Büro“ beherbergt, das eher einem kleinen Atelier gleicht. Sämtliche Farben gibt es da zu entdecken, dazu die unterschiedlichsten Pinselstärken, Kreidestifte, Marker, und was nicht alles.

All die Materialien fordern auf, aktiv zu werden. „Aber im Grunde braucht es nicht viel, um etwas zu machen. Manchmal muss man sich reduzieren, um zu was zu kommen,“ gibt Kerstin zu und meint mit einem Lachen: „Schuhe und Handtaschen sind nichts dagegen, was es mir an Freude bereitet, einen neuen Pinsel zu haben.“ In den Regalen reiht sich Fachliteratur aneinander, dort steht ein Bild mit Kerstins geletterten Sprüchen, da ist eine selbst gestaltete Postkarte gepinnt. In zahlreichen Ordnern ist fein säuberlich sämtliches Wissen abgeheftet, Skizzen, Übungen, Farbproben.

Zu wenig Talent?

Kerstin erzählt weiter von ihren Kursen, die sie auch für Kinder anbietet. Viele Geburtstage hat sie zu einem echten Erlebnis gemacht. Das Stahlen der Kinderaugen, wenn sie so viele bunte Stifte und Papier sehen, die angeborene Lust, einfach draufloszumalen… Die 45-Jährige erinnert sich selbst an ihre Kindheit: „Ich hab das erlebt und erlebe das heute noch. Zeichnungen von Kindern werden von Erwachsenen oft gleich bewertet, kritisiert, manchmal unbewusst abgewertet. Hätte das nicht schöner werden können? Wäre nicht ein wenig mehr Mühe drin gewesen? Das drückt das Selbstbewusstsein und den unbeschwerten Schaffensdrang.“

Auch darum dachte Kerstin lange, sie hätte zu wenig Talent, um was „Gscheids“ zu Papier zu bringen. Und das, obwohl sie schon als Kind stundenlang gemalt und gezeichnet hat. Immer innerlich motiviert vom Opa, der in München arbeitete, Maurer war, aber in einer Malgruppe aktiv. Der Opa war nicht der Typ, ihr was beizubringen, diente aber doch als Vorbild, dranzubleiben. Von der Tante ließ sich Kerstin Kunstbände schenken. Von der Mama bekam sie einen Kalligraphiekasten, mit denen sie schon damals sämtliche Urkunden geschrieben hatte. Und später dann, mit 16, 17 Jahren hat sie bei Peter Kapfhamer in Pfarrkirchen gejobbt und sich die Tricks und Kniffe im Grafikdesign angeeignet.

Das Kreative, das war immer das, was Kerstin fasziniert hat. So kam es schließlich, dass sie bei der Firma Lindner eine Ausbildung zur technischen Zeichnerin für Innenausbau machte, mit Schreinern in die Berufsschule ging und in Anschluss mit Innenarchitektur liebäugelte. Nach der Abschlussprüfung landete sie aber mit 19 Jahren bei der Firma Haas, war für Detailplanung und Werkpläne zuständig, liebte die Abwechslung zwischen Baustelle und Büro. Kerstin war gekommen, um zu bleiben. „Auch, wenn’s anfangs schwer war in einer Männerbranche,“ wie sie sagt. „Aber mit Kuchen und dreckigen Witzen ist das schnell gut geworden.“

Hundertprozentiger Verlass, tiefes Vertrauen

Kerstins Mann Günther kam wenig später in die Firma, kennengelernt hat sie ihn aber nicht dort. „Wir kannten uns schon immer. Wir beide sind ja Johanniskirchner. Günther und ich waren immer tief freundschaftlich verbunden, nie schockverliebt. Irgendwann hat’s halt geschnackelt und wir sind ein Paar geworden,“ erzählt sie. Grade in der jetzigen herausfordernden Zeit ist ihr klar geworden, dass der gegenseitige hundertprozentige Verlass und das tiefe Vertrauen von unschätzbarem Wert sind.

Gemeinsam hat das Paar ihr Haus in Miesing, dem kleinen Dorf, das mit einer Netto-Filiale mit Johanniskirchen verbunden ist, gebaut. Kerstin hat die Pläne gezeichnet und packte an, wo es ging, ihr Mann konnte als Schreiner viel selbst machen. „Nur die Heizung und die Fliesen – das haben wir den Profis überlassen,“ sagt Kerstin und lacht von den Mundwinkeln bis zu den Augen.

Ihr Lachen ist fast ein wenig fatalistisch zu deuten, als sie von ihrem Unfall erzählt. Beim Montieren der Dachrinne rutschte sie ab und schnitt sich so tief ins Handgelenk, dass sie sich die Pulsader, sämtliche Nerven und Muskeln durchtrennte. Bis heute sind drei Finger der rechten Hand taub, es dauerte Monate, bis sie wieder greifen konnte. Die Ärzte waren sich einig, dass sie einen ordentlichen Dusel hatte und es fast unglaublich ist, dass sie heute genau das macht, was sie macht: filigranste Pinsel- und Federstriche, Präzision bis ins letzte Detail.

„So formt einen das Leben“

Kerstin ist sich sicher, dass alles so kommt, wie es kommen muss und sie hat das Beste draus gemacht: Sie ist gewachsen an den Aufgaben, die ihr das Leben gestellt hat. So wie an dem Bandscheibenvorfall, der sie acht Wochen vor der Hochzeit lahmlegte. Sie bewertet das Ganze heute absolut reflektiert: „Ich neige dazu, die Dinge zu sehr an mich ranzulassen. Bei einem ausländischem Großprojekt ging es drunter und drüber – das war zu viel Stress…“ Nach einer Notoperation folgte die Reha, auf der sie ihre Hochzeitssträußchen band. Die Hochzeit verschieben? Wozu? „Ich war schon immer eine gute Organisatorin,“ sagt Kerstin und lacht.

Im Jahr 2006 kam Paul zur Welt, 2011 Josef. Zwischen den Kindern arbeitete Kerstin in einem Ingenieursbüro auf Minijobbasis. Der jüngste Sohn hatte von Geburt an gesundheitliche Probleme, die viel Ängste, Zeit, Geduld und Nerven in Anspruch nahmen, dazu kam der Tod des Schwiegervaters. Viele Herausforderungen für Kerstins Familie. „So formt einen das Leben,“ sagt sie pragmatisch, aber herzlich. Während das Leben formt und auf einen Tag der andere folgt, gerät manches in den Hintergrund. So auch Kerstins Liebe zum kreativen Ausdruck.

„In der stressigen Zeit hab ich das nicht vermisst,“ erinnert sie sich. „Aber 2017 hatte ich das Bedürfnis, endlich wieder zu mir zu kommen, mich zu entspannen.“ Was lag da näher, als die verräumten Kisten mit Pinseln, Farben, Papier wieder hervorzuholen? Nach und nach erwachte Kerstins alte Leidenschaft wieder, sie entdeckte den alten Kalligraphiekasten ganz neu, begann, sich ernsthaft damit auseinanderzusetzen. „Die Basis ist die englische Schreibschrift, die Spitzfederkalligraphie,“ sagt Kerstin. „In der Kalligraphie ist es so, dass es als Weg betrachtet werden muss. Es ist ein ständiges Wettrüsten zwischen Auge und Hand, wobei das Auge immer weiter ist als die Hand. Da muss ich mich immer wieder von meinem Perfektionismus und Selbstanspruch verabschieden,“ gesteht sie.

„Das war wie im Schlaraffenland“

Auf Instagram hat Kerstin schnell festgestellt: Da sind alle Farben- und Schriftenjunkies der Welt versammelt. Ihre Augen leuchten, als sie von der schier unendlichen Inspiration erzählt, von den enormen Lernmöglichkeiten, die sich ihr auf dem Onlineweg offenbarten. „Das war wie im Schlaraffenland.“ So vertiefte sich Kerstin mehr und mehr in ihre Leidenschaft, belegte Kurse bei Frauen, die sie via Social Media kennengelernt hatte – Hand- und Brushlettering, Spitzfeder, Watercolor – und stellte schnell fest: Hier in der Region gibt es nichts Vergleichbares. Die meisten der Kurse waren für sie eine Bereicherung, manche aber ziemlich trocken und ohne jede Atmosphäre. „Das ginge doch auch anders, dachte ich mir,“ erzählt Kerstin und ließ Taten folgen.

Im Jahr 2018 kam sie mit Annemarie Winetzhammer von Annemissima aus Ried bei Bad Birnbach ins Gespräch und startete einen Testworkshop. „Ich wusste ja nicht, ob sich überhaupt jemand dafür interessieren würde,“ sagt Kerstin. Aus einem Workshop wurden sofort drei – „So ging es los.“ Es folgten Kreativabende in ihrem Esszimmer, „jeder macht, tut, kritzelt, schreibt. Der kreative Funke sprüht dann nur so.“ Schnell wurde Kerstin das immense Potential bewusst, das große Verlangen nach spielerischen Auszeiten. Sie knüpfte Kontakte zur Volkshochschule Passau und zum Volksbildungswerk Pfarrkirchen und bekam schließlich den Raum in der ehemaligen Schule in Johanniskirchen.

„Wenn man sich auf den Weg macht…“

Dort sieht es nicht so aus, wie man es von einer VHS-Räumlichkeit vielleicht erwarten würde. Vielmehr gleicht das Zimmer einer behaglichen Stätte, die zum Verweilen einlädt: Viele Bilder zieren die Wände, auf denen schon zu sehen ist, welche Bandbreite an Möglichkeiten Kerstin anbietet. Zwei große Tische warten nur darauf, wieder kreative Zeiten zu erleben. „Ich hab das ganz low budget renoviert,“ winkt Kerstin ab. „Es ist toll, dass wir hier eine Teeküche und eine Toilette haben, dazu gibt es eine Dokumentenkamera, damit die Teilnehmerinnen genau sehen können, was meine Hand macht.“

Genau so arbeitet Kerstin in ihren Onlinekursen. Die sind ebenso schnell ausgebucht wie die analogen Kurse vor Corona. „Ich hätte nie gedacht, dass das derartig einschlägt. Das war kein langsamer Start, sondern gleich Vollgas,“ sagt Kerstin. Sie denkt nach, nickt. „Wenn man sich auf den Weg macht, öffnen sich Türen, die man nie erwartet hätte.“ Ob online oder analog – jede Teilnehmerin wird von Kerstin mit einem liebevoll gestalteten Starterpaket ausgestattet. So werden Hand- oder Brushlettering, das Gestalten von Postkarten, alter Fenster oder Christbaumkugeln, zu einem sinnlichen Erlebnis, das Wertschätzung ausstrahlt. „Übrigens kommen nicht nur Frauen zu mir, es haben auch schon Männer mitgemacht,“ sagt Kerstin und zwinkert.

Kerstin legt die Spitzfeder beiseite, zeigt geschwind noch, was aus einem einfachen schwarzen Filzstift herauszuholen ist. Sie wischt einige Striche auf Folie, taucht einen feinen Pinsel in Wasser, fährt über die Farbe und malt mit dem richtigen Druck und dem richtigen Winkel Blütenblätter auf Papier. Schwarze Blüten? Nein, in Verbindung mit Wasser zeigt sich ein zartes oder kräftiges Lila, je nachdem, wie viel Wasser Kerstin mit dem Pinsel aufnimmt. Minuten später reihen sich die Hortensienblüten nebeneinander. Ein geübter Schriftzug hinzu und fertig ist die selbst gestaltete Karte. „Eigentlich ist es ganz einfach,“ sagt Kerstin und lacht mit ihrem unvergleichlichen Witz.

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kerafein

Kerstin Rackerseder

Telefon: 08564-963 29 49
Anschrift: Miesing 2b
84381 Johanniskirchen

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