Wenn aus dem Nichts eine ganze Welt entsteht – Sebastian Goller und das Theater (1)

„Wenn mir vor fünf Jahren einer gesagt hätte, dass ich bald verheiratet sein, in einem alten Bauernhaus auf dem Dorf wohnen und Papa sein würde, hätte ich ihm den Vogel gezeigt,“ sagt Sebastian Goller und lacht. Nun sitzt er da – in der gemütlichen Stube des alten Bauernhauses in Diepoltskirchen in der Valentinstraße, wo die Zimmerdecke durchhängt, Hund Maja herumwuselt und wahlweise ein Kind oder seine Frau Mia Goller hereinschaut. Sebastian nimmt einen Schluck Kaffee aus der großen Tasse, auf der zu lesen steht: „Ohne Papa ist alles doof“.

„Der Goller“ – daheim in Niederbayern

„Der Goller“ ist jetzt 41 Jahre alt und der geneigte Rottaler könnte ihn durchaus auf neudeutsch als Local Hero bezeichnen. Zumindest ist das die Definition, wenn man sein Gesicht immer mal wieder in der Presse sieht, sei es nun im Kulturteil, weil man Theater gespielt, Regie geführt oder ein eigenes Stück ersonnen hat – oder im Lokalteil, weil man mit dem Bayerischen Integrationspreis ausgezeichnet wurde oder mit dem Schönauer Posthalterstadl eine neue Kulturstätte geschaffen hat.

Sebastian zieht an seiner E-Zigarette, beim Ausatmen zieht leichter Apfeltabak-Duft durch die Luft. Er sitzt auf der Eckbank, wo im Herrgottswinkel der Jesus vom Kruzifix herabschaut, umringt von den Heiligenbildern, die die Namen aller Familienmitglieder tragen. Wenn Sebastian erzählt, tut er es mit einer besinnlichen Leidenschaft. Die Gedanken kommen und vertiefen sich beim Reden, er zwickt die Augen zusammen und da ist immer wieder das sehr verschmitzte Lächeln um seine Mundwinkel.

Sebastian hat schon was gesehen von der Welt – vielleicht nicht von der großen, weiten – aber von der menschlichen Welt, von den Abgründen und den unbändigen Höhen des Lebens. Er hat sie gespielt, sich eingefühlt und reingebissen. Er hat es gesehen, das Menschliche – im Theaterleben, hat es als Regisseur herausgelockt und hat es kennengelernt mit den Geschichten der Flüchtlinge, mit denen er intensiv zusammengearbeitet hat beim Projekt „Mitten in Niederbayern“.

Erste Schaupielerfahrung: Krippenspiel

„Eigentlich wollte ich Biochemiker werden und in die Forschung gehen,“ sagt Sebastian. „Die Naturwissenschaft hat mich in der Schule am meisten interessiert.“ Sein großer Bruder Erwin hat genau diesen Weg eingeschlagen, arbeitet heute als Chemiker. Der kleine Bruder Simon ist Informatiker. Lauter Analytiker, die Gollers. „Ich hab immer Leute geschätzt, die gern nachdenken,“ sagt Sebastian. Er selbst tut das auch zur Genüge – und gewissermaßen ist er ja Biochemiker geworden, indem er die zwischenmenschlichen Zusammenhänge analysiert. Im kulturellen Sinne, versteht sich.

Seine erste Schauspielerfahrung hat Sebastian beim Krippenspiel in der Grundschule gemacht. Dieses Schicksal teilen viele Kinder, deshalb drängt es sie nicht zwingend weiter auf die Bühne. So hat es auch bei Sebastian bis zur 13. Klasse gedauert, bis er wieder Lust auf Theater hatte – am Gymnasium Pfarrkirchen, bei der Kollegstufen-Schauspielgruppe. „Ich erinnere mich noch an das grüne Reclam-Heft von der Dreigroschenoper,“ sagt er. Für ihn war das Brecht-Stück nicht weniger als ein Schlüsselerlebnis. „Da habe ich den Zauber des Theaters begriffen: Aus dem Nichts entsteht eine ganze Welt, die den Leuten einen schönen Abend bringt.“

Der Kern des Theaters sind für Sebastian „Leute mit Talent, Hirn, Körper und Fantasie.“ Gerade die Fantasie ist es, die in der Welt der Erwachsenen oft zu kurz kommt – und beim Spiel Platz hat und sich entfalten kann. Und dann ist da auf der anderen Seite das Publikum, das direkt auf das Gesehene reagiert. Es entsteht ein magischer Austausch zwischen den Zuschauern und den Spielenden. „Die Kraft dahinter kann viel bewirken,“ sagt Sebastian.

„Die Schauspielschule war ein Schock für mich“

Derartig infiziert mit dem Theatervirus schob Sebastian die Gedanken an ein Chemiestudium beiseite und bewarb sich direkt nach dem Abitur an diversen Schauspielschulen. Nach dem Vorsprechen an der Athanor-Akademie in Burghausen wurde er prompt angenommen. Er bezeichnet sich selbst als „Tölpel vom Land“, so wie er damals in die Theaterwelt hineinstolperte: „Die Schauspielschule war ein Schock für mich. Nur weil ich zweimal im Schultheater gespielt habe, hatte ich ja keine Ahnung davon.“

Was er von der Schauspielschule mitgenommen hat, bezeichnet Sebastian als „komprimierte Lebenserfahrung.“ Die schönen Seiten und die Abgründe, die Dramen und die Komödien – all das liegt im Leben nah beinander. „Jeder Mensch hat zu jeder Zeit eine Absicht,“ sagt Sebastian und nennt damit eine Erkenntnis. Ein wenig bedrohlich wirkt das fast, als der Satz in den Raum hinein klingt und sich kurze Stille hinterher schiebt.

Weil so eine „komprimierte Lebenserfahrung“ und das Theater sowieso nicht ohne Psychologie auskommen, hat Sebastian auch diese Disziplin gestreift. „Originalität liegt nicht im Anderssein, sondern in der Tiefe seines Seins,“ zitiert er seinen geschätzten Professor David Esrig. Daraus ergeben sich Selbstakzeptanz und Selbstvertrauen, beides Elemente, an denen wohl jeder zu arbeiten hat. So auch Sebastian.

„Hast Du Hoffnung, Sebastian?“

„Man muss nur hören, was die eigene Stimme sagt,“ meint der 41-Jährige und lacht über das leicht gesagte „nur“. Seine eigene Stimme hat ihm geflüstert, er solle die Schauspielerei und auch das Regieführen weiter verfolgen. Die Familie hatte keine Einwände gegen die „brotlose Kunst“, im Gegenteil – von allen Seiten erfuhr Sebastian große Unterstützung. Die Mama wollte selbst Sängerin werden, hatte sogar schon einen Platz am Mozarteum. Auch der Papa war dafür. „Mein Opa war sehr stolz und meine Oma hat mich nur angeschaut und gefragt: ‚Hast Du Hoffnung, Sebastian?'“

Ja, der Sebastian hatte jede Menge Hoffnung. Und dazu hatte er genug Hummeln im Hintern, selbst was zu bewirken. Schon zu Studienzeiten führte er eine eigene Theatergruppe an seinem alten Gymnasium – über fünf Jahre lang. Daraus entstand der Turnhallentheaterverein, dessen Aufführungen so gut liefen, dass schließlich leise Schelte aus dem Landratsamt kamen. „Man verstand das als Konkurrenz zum Theater an der Rott. Dabei haben wir das kulturelle Leben in Pfarrkirchen ernsthaft aufgewertet,“ sagt Sebastian nicht ohne Stolz.

Weiter ging es zunächst nach Salzburg, zu den Festspielen. „Jedermann“. Und auch nach Eggenfelden, wo er unter Intendant Peter Nüesch auf der Bühne stand. „Dreigroschenoper“, „Jesus Christ Superstar“, „Pippi Langstrumpf“. Und neben der Schauspielerei reizte ihn das Unterrichten. So dozierte Sebastian schon bald an seiner eigenen Schauspielschule, der Athanor Akademie. „Man lernt selbst viel, wenn man etwas erklärt,“ sagt er. „Gerade für mich als Regisseur war das sehr hilfreich.“ Auch heute noch pendelt der Dozent für „Improvisation und Spiele“ an vier Tagen in der Woche nach Passau, wo die Akademie inzwischen ansässig ist.

Theater an der Rott – „eine krasse Zeit“

Irgendwann kam es dann aber, wie es kommen musste: Sebastian landete fix am Theater an der Rott. „Das war schon eine krasse Zeit,“ sagt er. Fünf Jahre hat er am Theater gelebt, zehn Produktionen im Jahr mitgestaltet – in einem Kernteam von sechs Leuten, dicht an dicht mit dem damaligen Intendanten Mario Eick. „Das war ein unvergleichlicher Produktionsdruck. Von Montag bis Freitag haben wir geprobt, am Samstag auch noch – und Freitag, Samstag, Sonntag waren die Aufführungen.“

Fünf Jahre hat Sebastian also durchspielt, stand in der spielfreien Zeit in den Sommerferien aber immer auf der Straße. „Legal war das eigentlich nicht – es wurde aber von oben abgesegnet,“ sagt er. Trotzdem schaut er recht versöhnlich zurück: „Ich hab gelernt, effizient zu arbeiten. Leicht war das nicht immer – ich hab’s nicht so mit Autoritäten.“ Sebastian lacht, nicht zuletzt, weil diese Zeiten vorbei sind.

Auf Eggenfelden folgte Andechs, „eine wunderbare Erfahrung“, die sieben Jahre lang dauerte. Aus dieser Zeit hat Sebastian die Freundschaft zu Marcus Everding mitgenommen, der die Carl-Orff-Festspiele bis 2015 leitete. Die beiden Theatermacher verstehen sich auf einer künstlerischen und menschlichen Basis, Sebastian beschreibt Ihr Verhältnis als „formell distanziert und eng“ – und er siezt Everding nach wie vor. „Echte Freundschaft ist am Theater selten,“ sagt Sebastian. Echte Freundschaft – das ist für ihn was, das über den Zeitraum einer gemeinsame Inszenierung hinausgeht. Und mit Everding war das so eine seltene Begebenheit, weshalb jeder des anderen Trauzeuge war.

„Im Theater gibt es keine Demokratie“

Auch in der Andechser Zeit behielt Sebastian den Kontakt zu „seinem Heimattheater“ bei und spielte in Eggenfelden in so manchen Stücken mit. Karl M. Sibelius war auf Mario Eick gefolgt, nun wehte ein anderer Wind. „An Karl habe ich geschätzt, dass er unterschiedliche Regisseure ins Haus geholt hat – wo hat man das schon?“, sagt Sebastian. Im Stück „Männer“ hat er Peter Nüesch wiedergetroffen, „schön war das“.

Ja, schön war das schon, sagt Sebastian über seine Zeit als Schauspieler. Noch schöner aber ist für ihn, wenn er selbst Chef sein darf: „Der Regisseur sagt, wie es läuft.“ Und weil er sich zu seinen eigenen Chefansprüchen bekennt und das Handwerkszeug dazu zu händeln weiß, gibt er eben auch als Regisseur eine gute Figur ab – was er Eigenproduktionen wie den Karl-Valentin-Abenden sowie in „Mitten in Niederbayern“ beweist. Oder bei der Arbeit mit Laienbühnen wie bei „Der Watzmann“ in Viechtach oder bei „Der Revisor“ mit der Bühne links der Bina.

Das Handwerkszeug zum Regisseur besteht bei Sebastian aus einem planvollen Vorgehen und dem Vertrauen in den ersten Impuls: „Man muss immer wissen, wie es sein soll – sonst entbrennen Diskussionen, die man überhaupt nicht brauchen kann.“ Das klingt durchaus autoritär – und ist von Sebastian auch so gemeint: „Im Theater gibt es keine Demokratie.“

„Ich kann vor Ort etwas bewegen“

Schauspielern und Regieführen, dazu Unterrichten – diese Mischung taugt Sebastian. Der Vergangenheit schaut er nicht mal wehmütig hinterher. „Den Theaterbetrieb, wie ich ihn kennen gelernt hab, hab ich satt,“ sagt Sebastian. Er erinnert sich an ständige Jammereien, „dabei geht es dem Theater in Deutschland extrem gut. So ein Subventionssystem gibt’s sonst nirgends.“ Was ihn auch aufregt und schneller sprechen lässt, ist der Anspruch vieler Regisseure, die Stücke immer wieder „anders“ zu inszenieren. „Dann steht die persönliche Bedeutung des Stücks gar nicht mehr im Vordergrund – mit Kunst hat das nichts mehr zu tun,“ sagt er.

Die Abwechslung lässt Sebastian in allen Bereichen wach bleiben, daraus ergeben sich ständig neue Einflüsse und Interessen. Gerade ist es die Theaterpädagogik, die Sebastian für sich entdeckt hat. „Ich habe den direkten Wirk-Aspekt von Theater zu schätzen gelernt,“ sagt er. „Und ich kann vor Ort etwas bewegen.“

Vor Ort – das ist im Rottal, daheim. Dazu gehört mehr als nur Theater, dazu gehört seine Frau Mia, ihre drei Kinder, ihr gemeinsamer Sohn – Familie eben. Daheim in Diepoltskirchen, in der Valentinstraße. „Ein super Zufall,“ sagt Sebastian und geht hinaus in den Garten. „Bei Valentinstraße denke ich natürlich an Karl Valentin. Und in Diepoltskirchen steckt auch noch der Polt drin.“ Er lacht in sich hinein, holt nochmal die E-Zigarette heraus. Hund Maja schnuppert herum, Mia setzt sich auf die Gret, der einjährige Sohn erobert den Garten.

In zweiten Teil des Portraits nimmt mich Sebastian zum Posthalterstadl mit – fast seine zweite Heimat. Hier lässt er mit Mia „die Kultur im Dorf“. Was genau das zu bedeuten hat und was Sebastian sonst noch alles im Kopf hat, lesen wir dort…

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