Nicole Krapf und Stefanie Göllinger: „Therapeuten sind Herzensmenschen“
Das Sonnendorf macht heute seinem Namen alle Ehre: Das heiße Riesengestirn gibt alles, der Himmel ist blau und im Gesundheitszentrum steuert alles langsam, aber sicher auf Feierabend zu. Stefanie Göllinger und Nicole Krapf sind seit Februar 2018 ein Teil des innovativen Viertels von Schönau. Mit ihrer Physio im Sonnendorf haben sie einen Glückstreffer zwischen Eggenfelden, Pfarrkirchen und Arnstorf gelandet, die Patienten kommen aus der unmittelbaren Umgebung, aber auch von viel weiter her…
„Unsere Eltern haben’s möglich gemacht“
Als die beiden Frauen im November 2004 in Bad Birnbach ihre Ausbildung zur Physiotherapeutin begannen, begegneten sie sich zum ersten Mal bewusst – sie kannten sich nur vage über Geschwister. Damals wagten sie es erst gar nicht, den Traum von der eigenen Praxis zu spinnen. Die Lage war schwierig für ihre Zunft: kaum freie Stellen und ein Gesundheitswesen, das auf reduzierte Leistungen aus war. Dazu kamen die Ausbildungskosten, die Steffi und Nicole selbst tragen mussten: „Unsere Eltern haben’s möglich gemacht,“ sagt Steffi dankbar frei heraus und Nicole stimmt ihr zu. „Erst seit diesem Jahr übernimmt der Staat das Schulgeld.“
Die 31-Jährige wusste schon mit vier Jahren, dass sie einmal Therapeutin werden wollte. Damals brach sich ihr Vater den Arm kompliziert. Die Arbeit der Physiotherapeutin, die zu Hausbesuchen kam, faszinierte die kleine Tochter. Schön für Steffi war auch, dass ihr Papa mit ihr nun Mensch-Ärgere-Dich-Nicht spielen musste, um die Beweglichkeit seiner Finger zu trainieren. „Er hat oft betont, dass er ohne die Physiotherapeutin seine Hand nicht mehr bewegen könnte,“ erinnert sich Steffi.
Nicole hatte zunächst einmal einen anderen Berufswunsch: Stewardess wollte die heute 33-Jährige werden, die ganze Welt bereisen. Klar war ihr aber auch, dass sie das nicht lange würde machen können. Und darum vereinte sie ihr Interesse an Medizin und Sozialem, hörte auf ihr Herz und beugte sich ihrem Helfersyndrom, wie sie selbst mit einem kleinen Augenzwinkern sagt.
Baby und Selbstständigkeit – ein No-Go?
Nach der dreijährigen Ausbildung waren zunächst etliche Fort- und Weiterbildungen notwendig, um überhaupt eine Stelle zu finden. Nicole landete schließlich in der Rottal Terme, bevor sie in einer privaten Praxis in Massing in den Genuss einer Leitungsstelle kam. Steffi arbeitete in Simbach am Inn, danach am Chiemsee, als sie schließlich in derselben Praxis in Wurmannsquick eine Stelle fand. Nicole wagte 2013 einen Abstecher nach München. Vier Jahre später zog es sie wieder in die Rottaler Heimat, genauer zu ihrem Lebensgefährten nach Egglham: Die beiden wurden Eltern. Steffi blieb derweil der Praxis in Wurmannsquick treu.
Bis zu dem Tag, an dem bei Nicole das Telefon klingelte. Steffi war dran und fragte sie geradeheraus: „Was machst Du?“ Nicole befand sich noch im gemächlichen Elternzeitmodus, als die einstige Kollegin ihre Neugierde weckte. Steffi wollte sich selbstständig machen und suchte noch eine Mitstreiterin. „Erst dachte ich: Baby und Selbstständigkeit, ein No-Go! Aber ich bekam den Gedanken nicht mehr los. Und ich wusste auch, dass man in unserem Beruf nicht zu lange draußen sein sollte,“ erzählt Nicole. Nach einem Gespräch mit der Familie stand fest: Nicole und Steffi werden ein Team.
„Innerhalb einer Woche waren wir voll“
Da hatte Steffi längst im Sonnendorf nach freien Räumlichkeiten gefragt. Die Neuhoferin bekam das Ok noch bevor endgültig feststand, dass es ein Gesundheitszentrum geben würde. Ein dreiviertel Jahr hatten die beiden Gründerinnen Zeit für die Planung, das Anschaffen eines Kredits, die Einrichtung – „und am Schluss wurde es nochmal richtig eng,“ erinnert sich Steffi und lacht. Die Zulassung konnte erst dann erteilt werden, wenn die Praxis komplett eingerichtet war. Familie und Freunde packten nochmal ordentlich mit an – und dann war es am 17. Februar 2018 offiziell: Physio im Sonnendorf feierte Eröffnung.
Bei der Feier am Samstag herrschte noch heitere Ausgelassenheit – am Montag kam das große Kribbeln: Würden Steffi und Nicole nur hinter dem Tresen sitzen und verzweifelt auf das Klingeln des Telefons warten? Dazu kam es nicht. Viele ehemalige Patienten von Steffi – sie hatte vorher schon nebenberuflich eine kleine sektorale Heilpraktikerpraxis – riefen an und baten um einen Termin, in Schönau und drumherum sprach sich die frohe Botschaft der neuen Praxis schnell herum. „Innerhalb einer Woche waren wir voll,“ sagt Steffi und schmunzelt heute noch froh über diesen Schnellstart.
Schnelle Teamvergrößerung
Bei der Eröffnungsfeier hat Alexandra Braun vorbeigeschaut, in der Hoffnung auf einen Nebenjob. De Physiotherapeutin wurde schnell mit offenen Armen empfangen und als geringfügige Kraft eingestellt. Von sieben Uhr früh bis 20 Uhr abends behandelt das Team ihre Patienten. Danach wartete auf Steffi noch Büroarbeit. Aber nicht lange: Schon im April 2018 fand sich Claudia Müller als geringfügige Bürokraft ein. Einen Monat später startete Physiotherapeutin Eva Allertseder und im Juli Dominik Stömmer, beide auf 450-Euro-Basis.
Ab Juni kam „Putzfee“ Simone Zachskorn mit ins Team. Die Arbeit wurde trotzdem nicht weniger. „Ich hatte eine 50- bis 60-Stunden-Woche. Dazu kam immer noch genug Büroarbeit, die ich an den Samstagen erledigte,“ erinnert sich Steffi. Nicole arbeitet 20 Stunden pro Woche, da für sie von Angang an fest stand, dass ihre kleine Tochter an erster Stelle steht. Seit April 2019 hat sie zur Arbeit am Patienten auch einen Teil des organisatorischen Bereichs übernommen – hier lässt sich vieles von daheim aus machen und so kann sie sich die Zeit freier einteilen.
„Für Schmerzpatienten finden wir immer eine Lücke“
Das besserte sich, als im Januar 2019 Dominik in Vollzeit einstieg. „Kurz darauf fragte auch Alexandra an, ob das für sie möglich wäre,“ sagt Steffi. Die beiden Chefinnen berieten sich und entschieden nach kurzem Zweifel – Würden sie sich das leisten können? – dafür. Seit März ist nun auch Alexandra voll mit dabei und es klappt alles wunderbar. Nach kaum einem Jahr vergrößerten sie die Räumlichkeiten auf fünf Behandlungsräume, Wartezimmer sowie Aufenthaltsraum mit Küche und Büro. „Mit etwa zwei bis drei Wochen Wartezeit können wir den Service leisten, der uns entspricht,“ sagt Steffi. „Und für Schmerzpatienten finden wir immer eine Lücke,“ ergänzt Nicole.
In die Praxis kommen Kassenpatienten, Patienten, deren Behandlung über die Berufsgenossenschaft abläuft sowie Privatpatienten und Selbstzahler. Für sie alle gilt: „Krankengymnastik und Massagen haben keinen Sinn, wenn daheim nichts gemacht wird,“ sagt Steffi. Das Therapeutenteam macht sich deshalb stark zum Thema Alltagsschulung. Wer sich im Alltäglichen richtig bewegt, hat schon viel gewonnen – man denke ans Sitzen, Heben, Tragen. Viele kleine unbedachte Bewegungen können viel Schaden anrichten – der sich mit der nötigen Bewusstheit auch vermeiden lässt. Kleine zusätzliche Übungen, die zum Beispiel in Alltagssituationen erledigt werden können, unterstützen den Patienten zusätzlich. „Gefährlich“ wird es, wenn der Schmerz verschwunden ist – dann denken viele Patienten nicht mehr vorbeugend, sondern nehmen den angenehmen Zustand als selbstverständlich hin.
„Wir machen auch Hausbesuche“
Steffis und Nicoles Praxis ist nach dem neuesten Standard ausgestattet: „Wir wollten keine gebrauchten Geräte und haben uns alles neu gekauft. Wenn dann, gscheid,“ sagt Steffi und lacht. Neben den gängigen Therapien bieten Steffi und Nicole noch viel mehr an: Die Behandlung mit dem Laser ist eine nebenwirkungsfreie Schmerztherapie – die Strahlen sorgen für Tiefenwärme, Entspannung und kurbeln die Selbstheilungskräfte an. Die Elektrotherapie fördert ebenfalls die Durchblutung. Und die Ultraschalltherapie regt über Schallwellen die Durchblutung an, was dem Stoffwechsel zugute kommt.
Wer sich eine Massage gönnen will, ist im Sonnendorf genau richtig: Eine Dorn-Breuß-Massage ist genau richtig bei Rücken- und Gelenksbeschwerden. Die Ohr-Akupunktur-Massage kann zum Beispiel bei Migräne Wunder wirken. Und bei einer Aromaölmassage oder einer Hot-Stone-Massage lässt es sich wunderbar entspannen.
Doch nicht nur vor Ort ist das Team aktiv: „Wir machen auch Hausbesuche – das ist wirtschaftlich betrachtet, oft ein Spagat, aber wir wissen, wie wichtig diese für unsere Patienten sind,“ sagt Nicole. Ältere Menschen, Wachkomapatienten, Patienten mit Beinbrüchen müssen aber dennoch nicht auf die Therapeuten vom Sonnendorf verzichten. „Wir wollen keinen Patienten ablehnen,“ bekennt Steffi. „Therapeuten sind einfach Herzensmenschen, die niemanden im Stich lassen.“
„Für sich selbst geben viele Leute kein Geld aus“
Die Krankenkassen bezahlen je nach Krankheitsbild bis zu drei mal sechs Behandlungen – danach muss zwölf Wochen pausiert werden. Wenn der Patient in dieser Zeit nichts für sich selbst macht, ist der Behandlungserfolg kritisch. Klar – Übungen daheim machen ist so eine Sache. Aber man könnte sich ja weiterhin ein paar Physioeinheiten gönnen? „Für sich selbst geben viele Leute kein Geld aus – was ein Auto an Unterhalt kostet, wird nicht hinterfragt,“ sagt Steffi. „Dabei handelt es sich um den eigenen Körper, in dem man ein Leben lang wohnt.“
„Unser Ziel ist es, die Ursache des Patienten zu lösen,“ sagt Steffi. Das sei nicht immer leicht, da eine von der Kasse bezahlte Einheit zeitlich oft nicht ausreicht, um auf des Pudels Kern zu kommen. Die vom Arzt auf dem Rezept notierte Diagnose ist oft auch nur eine Standardformulierung, der es an Aussagekraft fehlt. „Außerdem ist nicht jeder Körper gleich und der Ursprung des Problems hat nicht immer etwas mit der Symptomatik zu tun,“ sagt Nicole. Was bei dem einen helfen mag, schlägt bei dem anderen gar nicht oder erst viel später an.
„Der Körper ist ein Bewegungssystem“
Den Expertinnen hilft es, den Patienten beim Gehen zu beobachten und den Körper ausgezogen anzuschauen. „Viele Probleme sind dadurch schon erkennbar,“ sagt Steffi. Das größte Problem sehen die Physiotherapeutinnen im Bewegungsmangel. „Der Körper ist ein Bewegungssystem,“ sagt Nicole. „Durch zu viel sitzende Arbeiten ist er heute bei den wenigsten Menschen genug ausgelastet.“ Dann entstehen Probleme: Der Rücken meldet sich, der Nacken gleich dazu, daraus entstehen Spannungen, die sich auf den ganzen Körper auswirken können. Kopfschmerzen haben ihre Ursache oft im Kiefergelenk, das unter Stress ständig angespannt ist, auch nachts.
„Das Zähnezusammenbeißen kann man wörtlich nehmen,“ sagt Nicole. „Da wirkt eine vom Zahnarzt verschriebene Schiene sogar kontraproduktiv, wenn nicht zuvor die Spannungen gelockert werden.“ Ein Grund für die beiden Frauen, sich hin und wieder die pinken Handschuhe überzustreifen. „Viele Verspannungen sitzen im Mundraum – da ist von außen nicht ranzukommen.“ Die heutige Zahnarztgeneration sei für die Problematik offen – sie arbeitet mit den Therapeutinnen zusammen. Sie selbst haben sich in Kursen auf den Bereich spezialisiert. Frauen tendieren ihrer Erfahrung nach am ehesten zu Schulter-Nacken-Problemen, Männer haben’s oft in der Lendenwirbelsäule, was vom schweren Heben und Tragen herrührt. „Insgesamt behandeln wir vom großen Zeh bis zum Kopf,“ sagt Steffi.
„Für mich ist die Arbeit ein Energiegewinn“
Und wie steht es um den Bewegungsapparat von Steffi und Nicole – nachdem sie jeden Tag so viel Körpereinsatz für ihre Patienten zeigen? Steffi zuckt mit den Schultern. „Urlaube sind wichtig. Die nehmen wir uns auch als Selbstständige,“ sagt sie und schwört dabei dem viel besagten Selbst und Ständig ab. Nicole sagt: „Wir behandeln uns und unsere Angestellten gegenseitig. Nur wenn wir fit sind, können wir unsere Arbeit machen.“
Sie träumt aktuell von der Ausbildung zur Osteopathin. Voraussetzung ist aber die bestandene Heilpraktikerprüfung – mit einem kleinen Kind und der Praxis aktuell noch nicht vorstellbar für sie. Auch Steffi überlegt, die große Heilpraktikerprüfung abzulegen – die kleine hat sie schon vor Jahren gemacht: „Immer wieder zeigt sich in der Praxis, dass es nicht schlecht wäre – schon allein, um rechtlich abgesichert zu sein.“ Noch hält sie der Zeitmangel davon ab.
Doch die beiden sind zufrieden, wie es läuft. Elf Jahre nach ihrer Ausbildung hat sich die Lage längst geändert: „Gute Physiotherapeuten sind gefragt udn können sich ihre Stellen mittlerweile frei auswählen,“ sagt Steffi. Doch die Kollegen bleiben der Physio am Sonnendorf treu. „Wir fühlen uns halt wohl miteinander,“ sagt Nicole. Demnächst steht der erste Praxisausflug in den Bayernpark an – und auch das Karpfhamer Fest wird das Team gemeinsam besuchen. „Es ist einfach schön, in den eigenen Laden zu gehen,“ sagt Steffi. „Da ist die Arbeit kein Muss.“ Nicole bestätigt das: „Für mich ist die Arbeit ein Energiegewinn. Das Beste ist, dass ich mir alles zeitlich so einteilen kann, wie ich es brauche.“ Sie nickt Steffi dankend zu, räumt die Kaffeetasse in die Spüle, steht auf. Steffi lächelt zufrieden, nimmt die Jacke vom Haken. Feierabend!